Die Bundeswehr soll kleiner werden. Kasernen werden geschlossen, Stützpunkte verlegt. Rendsburg hat den Abzug der Truppen erlebt.

Rendsburg. Glasscherben knirschen unter Klaus-Peter Flegels Sandalen. Seine grauen Socken saugen das Regenwasser auf und färben sich dunkel. Das Unkraut vor dem Backsteinhaus ist struppig, langsam frisst es sich am roten Ziegel hoch. Flegel tippt mit der Spitze seines Regenschirms gegen das Pressholz im Fenster, das die zerbrochene Scheibe ersetzt. "Dahinter, in dem Zimmer, da habe ich 1978 die ersten Nächte in der Kaserne geschlafen", sagt Flegel.

Heute ist das Haus leer. Und nicht nur das Stockhaus, auch das Offiziersheim, auch das Reithaus, auch das Mannschaftshaus. 17 Gebäude der Eiderkaserne im Zentrum von Rendsburg stehen unter Denkmalschutz. Alle anderen sind abgerissen. Der letzte Soldat hat die Kaserne 2008 verlassen.

Rendsburg hat gerade erlebt, was anderen Städten und Gemeinden in Deutschland noch bevorsteht: den Abzug der Bundeswehr. Den Norden, sagte Verteidigungsminister Thomas de Maizière vor ein paar Wochen, werde die Verkleinerung der Truppen besonders treffen. Im Herbst will sein Ministerium die Standorte bekannt geben, die geschlossen werden. Derzeit dienen 222 000 Soldaten in Deutschland. Bald sollen es noch 185 000 sein, vielleicht auch nur 175 000.

Auf Haufen am Straßenrand türmen sich Asphaltbrocken, Metallstangen und Holzpaletten. Laster rangieren auf dem Gelände und transportieren Bauschutt ab. Flegel geht über den nassen Sand, wo früher der Speisesaal und die Ausbildungshalle standen. 1978 kam er als Ingenieur für spezielle Aufgaben zur Generalstabsabteilung der Nato. Damals standen sich Ost und West im Kalten Krieg gegenüber, und das westliche Militärbündnis hatte seit 1962 ihr Hauptquartier "Landjut" in der Garnisonsstadt Rendsburg stationiert. Drei Nato-Kommandeure habe er überlebt, erzählt der 71 Jahre alte Flegel. Wenn er lacht, graben sich die Falten noch etwas tiefer um seine schmalen Augen.

1999 zog das Hauptquartier der Nato von Rendsburg ins polnische Stettin. Das Bataillon der Bundeswehr wurde 2008 verlegt. Fast 1900 Soldaten sind in den vergangenen Jahren aus Rendsburg abgezogen - aus einer Stadt, in der etwas mehr als 28 000 Menschen leben. Nicht nur die Eiderkaserne wurde geschlossen, sondern auch der zweite Standort, die Feldwebel-Schmid-Kaserne im Norden der Stadt.

"Wir spüren das", sagt die Kellnerin im Gasthof "Hauptwache" am Paradeplatz. Am Abend schauen keine Soldaten mehr auf ein Feierabendbier an ihrem Tresen vorbei. Die Partys nach dem Großen Zapfenstreich gibt es nicht mehr. Die Familien der Soldaten feiern keine Geburtstage mehr in dem Restaurant. Wer den Besitzer der Imbissbude oder die Verkäuferin im Bahnhofskiosk nach dem Abzug der Soldaten fragt, der hört ähnliche Sätze.

Es sind Gastronomen, Ärzte und Handwerker, bei denen am Ende des Monats Einnahmen fehlen. Soldaten brachten nicht nur gepanzerte Fahrzeuge, Uniformen und Waffen in die Stadt. Sie brachten auch Geld und Kundschaft. Offiziere nahmen ihre Familien mit nach Rendsburg. Sie bauten Häuser, kauften neue Autos. Wenn die Tochter krank war, holte der Vater Medikamente in der Apotheke. Am Wochenende gingen sie vielleicht ins Theater oder ins Schwimmbad.

Rainer Bock, der Geschäftsleiter der Industrie- und Handelskammer in Rendsburg, bestätigt, dass Friseure, Handel und Handwerk, Banken und Freiberufler unter dem Verlust der Soldaten gelitten haben. "Aber auch Immobilienwirtschaft und Kfz-Händler müssen den Wegfall der Kundschaft aus der Kaserne kompensieren", sagt Bock. Soldaten schützen ein Land, aber sie sind auch ein Standort-Faktor. Sie schaffen Arbeitsplätze auch vor dem Zaun der Kaserne.

In Rendsburg waren die Soldaten nie nur Zahlen in den Bilanzen der Stadtkasse. Die Geschichte des Militärs beginnt hier, als Rendsburg noch dänisch war. 1690 bauten die Dänen die Stadt zur zweitgrößten Festung in ihrem Königreich aus. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs soll Rendsburg die größte deutsche Garnison nach Metz gewesen sein. Flegel steht neben dem Reithaus. Bunte Graffiti sind auf den Backstein geschmiert. "Ihr lebt in einem Zoo", steht dort. Oder: "All Cops are Bastards". Viele Fensterscheiben der Häuser sind eingeschmissen. Flegel schüttelt den Kopf. Er murmelt etwas von sinnlosen Randalierern in seinen kurz geschnittenen Oberlippenbart. Die Stadt hat einen privaten Wachdienst angeheuert, der nachts über das Gelände patrouilliert.

Vom Rücksitz seines Autos holt Flegel Zettel mit historischen Bauplänen der Kaserne. Er zeigt ein schwarz-weißes Foto, preußische Soldaten mit Pickelhaube auf Pferden im Hof der Garnison. Flegel erzählt Anekdoten über das Militär in der Stadt, so wie ein Fußballfan über seinen Lieblingsverein. Früher, im 18. Jahrhundert, haben die Soldaten hier im Stockhaus die Gefangenen mit einem glühenden Eisen gebrandmarkt. Sklaven nannten sie ihre Gefangenen. Weil die Besoldung so schlecht war, kaufte ein Leutnant Schmuck günstig in Rendsburg ein und ging zu Fuß zum Geschäftemachen ins reiche Hamburg. Zwei gleichgroße Offiziere, erzählt Flegel, mussten sich eine Ausgeh-Uniform teilen. Zu seiner Zeit gab es noch argentinisches Rindfleisch im Nato-Shop zu guten Preisen. Und Tabak und Schnaps.

Dann kam die SPD. "Immer wenn ein SPD-Mann im Verteidigungsministerium saß, passierte Schlimmes", sagt Flegel. Er meint vor allem "Kamerad Struck", wie er den ehemaligen Verteidigungsminister nennt. Es war der 1. November 2004, als dessen Bundeswehrreform über Schleswig-Holstein zog. Der Marinestützpunkt Kappeln-Olpenitz wurde aufgelöst, Bad Segeberg verlor 870 Dienstposten, Albersdorf 740, Kellinghusen 940, Breitenburg 840. Rendsburg traf es am härtesten.

Bürgermeister Andreas Breitner sitzt an dem schwarzen Tisch in seinem Büro und erinnert sich an diesen ersten November, als Peter Strucks Streichliste Rendsburg erreichte: Breitner machte gerade mit seiner Frau Urlaub in Rostock, als sein Telefon klingelte. Ein Journalist der Lokalzeitung rief ihn an. Der Bürgermeister solle Stellung nehmen zu den Plänen des Verteidigungsministers. Breitner brach den Urlaub ab und fuhr zurück. Eine 350 Jahre alte Tradition werde durch den Federstrich eines Ministers beendet, sagte Breitner damals wütend in Richtung seines Parteikollegen im Berliner Ministerium.

Heute sagt er: "Wir sehen in dem Verlust eine Chance." Die Eiderkaserne wird abgerissen - und doch steht sie in Rendsburg für den Aufbau einer Zukunft ohne Soldaten. Zwei Stadtplaner befassen sich mit dem Umbau des 20 Hektar großen Geländes, eine Fläche von 28 Fußballfeldern. "Wir schaffen einen ganz neuen Stadtteil", sagt Breitner. Die Imland-Klinik liegt direkt neben der Kaserne und hat bereits einen Teil des Grundstücks gekauft. Das Krankenhaus baut dort eine Apotheke und neue Stationen. Neben der Kaserne stehen Container mit Fenstern und Türen. Schüler der angrenzenden Herder-Schule und der Helene-Lange-Schule werden dort unterrichtet. Nun sollen auf dem Kasernengelände 24 neue Klassenzimmer entstehen. Nicht in Containern, sondern im Stabsgebäude. Außerdem plant die Stadt neue Wohnungen und eine Kindertagesstätte.

18 Millionen Euro kostet der Umbau des Geländes. Zwei Drittel davon finanziert das Land aus Mitteln der Städtebauförderung. Den Rest zahlt die Stadt. "Wir müssen das Bauprojekt in homöopathischen Dosen durchführen, damit wir uns nicht finanziell übernehmen", sagt Breitner. Für den Kauf der Feldwebel-Schmid-Kaserne fehlt der Stadt das Geld. Es soll erste private Interessenten geben. 60 Hektar misst das Gelände im Norden von Rendsburg. Am hohen weißen Stahlzaun hängt ein Schild: "Zu verkaufen", Absender ist die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben. Flugzeughallen stehen dort, Schuppen, denkmalgeschützte Kasernenbauten. Knapp zwei Millionen Euro soll das Grundstück insgesamt kosten. Aus Sicht der IHK in Rendsburg fehlt dort vor allem eine vernünftige Anbindung für den Verkehr. Die Eiderkaserne am Paradeplatz im Zentrum der Stadt ist für viele in Rendsburg zum Symbol für den Aufbruch geworden. Die andere Kaserne im Norden, sie steht für Stillstand. Wer im Auto des Bürgermeisters durch Rendsburg fährt, hört auch von diesen Zweifeln. Noch immer treffe man pensionierte Soldaten in der Stadt an. Sie engagieren sich nach dem Aus für die Bundeswehr im Fußballklub oder Heimatverein. "Doch es kommen keine Jungen mehr nach", sagt Bürgermeister Breitner.

Fragte er Menschen außerhalb von Schleswig-Holstein nach Rendsburg, bekam er immer zwei Antworten: "Da fährt doch der Zug nach Sylt und Skandinavien eine Schleife." Die zweite: "Rendsburg, da war ich beim Bund!"

CDU-Mann Thomas de Maizière führt nun fort, womit SPD-Mann Struck begonnen hatte: Er spart ein. Mit den Reformen sucht die Bundeswehr nach einem neuen Profil für den Krieg im 21. Jahrhundert. Doch mit dem Verschwinden der Stützpunkte sind auch die Menschen in Städten wie Rendsburg auf der Suche nach einem neuen Gesicht für ihre Stadt. Die Tradition wollen sie nicht vergessen. 2014 soll im Museum eine eigene Abteilung für Militärgeschichte entstehen.

Für Klaus-Peter Flegel soll sie einmal das Gedächtnis der alten Garnisonsstadt sein. Beim Abschied kramt er noch nach seiner Visitenkarte im Portemonnaie. "Klaus-Peter Flegel, Stadtführer", steht dort. Auch er hat sich nach seiner Pensionierung als Soldat eine neue Aufgabe gesucht. Jetzt am Wochenende, sagt er, werde er Angestellte einer englischen Firma die alte Hochbrücke über dem Nord-Ostsee-Kanal vor der Stadt zeigen. "I am Peter", wird er zur Begrüßung sagen. "Your guide."