Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsident Sellering (SPD) fordert die Linke im Abendblatt-Interview auf, sich vom Mauerbau zu distanzieren.

Schwerin. Er stammt aus Nordrhein-Westfalen und regiert seit drei Jahren Mecklenburg-Vorpommern. Erwin Sellering, 61, lässt offen, ob seine SPD nach der Landtagswahl am 4. September - die Umfragen deuten auf Sieg - weiter mit der CDU koalieren oder zur Linkspartei wechseln wird. Die Linke im Nordosten hält an diesem Wochenende ihren Landesparteitag ab - und provoziert mit Äußerungen zum Mauerbau.

Herr Sellering, Sie waren elf Jahre alt, als die Berliner Mauer gebaut wurde. Haben Sie eine Erinnerung an den 13. August 1961?

Erwin Sellering: Nein. Erinnern kann ich mich an die spätere Kennedy-Rede mit dem Satz: "Ich bin ein Berliner." Die hatte mein älterer Cousin als Schallplatte.

Die Mauer - was war das für Sie?

Sellering: Sie hat die Trennung zwischen beiden deutschen Staaten zementiert. An der Mauer wurden Menschen mit aller Gewalt am Verlassen der DDR gehindert. Es gab Tote. Ich habe die Grenze erstmals auf einer Abiturfahrt nach Berlin erlebt. Das war alles angelegt auf Verängstigen und Einschüchtern.

Wie bewerten Sie Umfragen, nach denen sich jeder vierte Deutsche die Mauer zurückwünscht?

Sellering: Das entspricht nicht dem, was ich im Gespräch mit den Menschen hier im Land erlebe. Mir hat noch niemand gesagt, dass er sich die Mauer zurückwünscht. Richtig ist allerdings: Das Zusammenwachsen von Ost und West ist noch nicht geglückt. Viele sagen, dass es für sie immer noch eine unsichtbare Mauer gibt. Das macht mir Sorgen. Daran müssen wir auf beiden Seiten arbeiten.

Vertreter der Linkspartei in Ihrem Bundesland schreiben in einem Positionspapier, der Mauerbau sei "ohne vernünftige Alternative" gewesen. Was sagt das über die Regierungsfähigkeit der Linken aus?

Sellering: Der Mauerbau war schlimmes staatliches Unrecht, begangen von der SED-geführten Regierung. Das ist durch nichts zu entschuldigen. Keine Regierung darf ihr Volk einmauern. Die Linke ist Nachfolgepartei der SED. Deshalb finde ich richtig, dass sich diese Partei besonders intensiv mit der Geschichte auseinandersetzt. Stimmen aus den Reihen der Linken, die den Mauerbau als Notwendigkeit bezeichnen, sind für mich völlig inakzeptabel. Mit solchen Formulierungen hat damals schon die SED-Führung die Abriegelung der DDR gerechtfertigt.

Was folgt daraus?

Sellering: Ich schaue mir sehr genau an, wie die Linke auf ihrem Landesparteitag an diesem Wochenende mit dem Thema umgeht. Der 13. August ist ein geeignetes Datum, um sich klar vom staatlichen Unrecht in der DDR zu distanzieren.

Linke-Chefin Lötzsch sucht derweil nach Wegen zum Kommunismus ...

Sellering: Ich nehme die Linkspartei auf der Bundesebene als chaotisch wahr. Rot-Rot halte ich da für völlig undenkbar. Das ist sicherlich auch in manchen Bundesländern so. In Mecklenburg-Vorpommern wäre es allerdings unglaubwürdig, wenn ich sagen würde: Die Linke ist nicht regierungsfähig. Es gab hier ja schon einmal eine rot-rote Regierung. Wir haben acht Jahre gut zusammengearbeitet und erfolgreich regiert.

Es bleibt also möglich, dass Sie nach der Landtagswahl den Koalitionspartner wechseln.

Sellering: Ich trete an, um mit der SPD wieder stärkste Kraft zu werden. Wir haben klare Ziele: Wir wollen das Land wirtschaftlich voranbringen, damit es Arbeitsplätze gibt. Das Land soll kinder- und familienfreundlicher werden. Und wir wollen die solide Finanzpolitik der letzten Jahre fortsetzen. Wir werden mit der Partei zusammengehen, mit der wir unser Programm möglichst weitgehend umsetzen können. Da gibt es keine Vorfestlegungen.

Die CSU fordert, die Linkspartei stärker vom Verfassungsschutz beobachten zu lassen - und einen Verbotsantrag zu prüfen ...

Sellering: Hier im Land haben wir ein Problem mit der NPD. Mecklenburg-Vorpommern ist sozusagen das Aufmarschgebiet der Rechtsextremisten. Das ist eine klar verfassungsfeindliche Partei, für deren Verbot sich hier SPD und CDU gemeinsam einsetzen. Die Union im Westen sperrt sich leider gegen ein neues NPD-Verbotsverfahren. Das ist schlimm genug. Und jetzt bringt Herr Dobrindt stattdessen ein Verbot der Linkspartei ins Gespräch. Das ist schon ein bisschen durchgeknallt!

Und die Beobachtung durch den Verfassungsschutz - ebenfalls durchgeknallt?

Sellering: Aus meiner Sicht ist es nicht notwendig, die Linkspartei zu beobachten. Es ist doch abwegig zu glauben, dass die Linke in Deutschland eine neue Diktatur des Proletariats errichten will.

Sie haben gesagt, die DDR sei kein Unrechtsstaat gewesen. Glauben Sie das immer noch?

Sellering: Ja.

Die Mauertoten sind für Sie kein Argument?

Sellering: In der DDR hat es schlimmes staatliches Unrecht gegeben von der SED-geführten Regierung. Die Mauer und das Regime an der innerdeutschen Grenze sind das schlimmste Beispiel dafür. Da gibt es nichts zu verharmlosen. Aber es ist sachlich falsch und eine Abwertung der Lebensleistung vieler DDR-Bürger, das gesamte Leben in der DDR auf das staatlich begangene Unrecht zu verkürzen, wie das mit dem Begriff Unrechtsstaat bewusst versucht wird.

Was war denn gut?

Sellering: Millionen Menschen in der DDR waren weder Opfer noch Täter. Sie haben in vielen Bereichen unter schwierigen Bedingungen versucht, das Bestmögliche zu erreichen. Mich wundert, mit welcher Aggressivität jeder sofort persönlich angegriffen wird, der darauf hinweist.

Der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen vermutet, Sie wollten sich dem Wahlvolk als Ost-Versteher anbiedern ...

Sellering: Der Bundesbeauftragte sollte in seinem überparteilichen Amt heilen und versöhnen. Er sollte nicht spalten und verschärfen. Was Herr Jahn sagt, ist Gift für das Zusammenwachsen von Ost und West. Ich habe mich immer um sachliche Argumentation bemüht. Auch Herr Jahn sollte sachlich argumentieren und nicht jedem, der anderer Meinung ist, unlautere Motive unterstellen.

Wie gut haben Sie die DDR gekannt?

Sellering: Ich habe nicht in der DDR gelebt. Ihre Frage zielt darauf ab, ob ich dann über die Geschichte der DDR mitdiskutieren kann. Ich will deshalb sehr deutlich sagen, worum es mir geht, nämlich um das Verhältnis von Ost und West heute. Als aus Westdeutschland stammender Ministerpräsident eines ostdeutschen Landes sage ich: Wir müssen besser werden beim Zusammenwachsen. Es gibt vielfach einen moralisch-überheblichen Blick von West nach Ost. Das finde ich unangemessen. Deswegen trete ich so engagiert für die Lebensleistung der Menschen hier ein.

Was können Westdeutsche von Ostdeutschen lernen?

Sellering: Aktuell sicherlich die Bewältigung von Krisen. In meinem Land musste nach der Deutschen Einheit fast jeder neu anfangen, sich auf völlig veränderte Umstände einstellen. Diese Fähigkeit kennzeichnet die Ostdeutschen. Dafür haben sie großen Respekt verdient.

SPD-Chef Gabriel sieht jeden gewählten Ministerpräsidenten der Sozialdemokraten als potenziellen Kanzlerkandidaten. Sind Sie bereit, Angela Merkel herauszufordern?

Sellering: Ich freue mich, dass wir in der SPD viele gute Leute haben. Mit Gabriels Ausspruch ist der Kreis der möglichen Kanzlerkandidaten allerdings etwas groß geraten. Ich zähle mich nicht dazu.

Wer hätte die besten Chancen?

Sellering: Die Spekulationen in den Medien konzentrieren sich auf eine Troika: Steinbrück, Steinmeier und Gabriel. Alle drei halte ich für hervorragend geeignet.