Ehemalige Familienministerin Christine Bergmann stellt den Bericht des Deutschen Jugendinstituts vor. Lehrer sind oft überfordert.

Berlin. Es sind keine Ausnahmen. Keine Einzelfälle, die nur den anderen passieren. Sexuelle Gewalt und Missbrauch, so zeigt es eine neuen Studie, ist für viele Kinder und Jugendliche Realität. An fast jeder zweiten Schule in Deutschland waren entsprechende Verdachtsfälle in den vergangenen drei Jahren ein Thema. Außerdem an zwei von drei Internaten und an vier von fünf Kinderheimen.

"Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen in Institutionen" lautet der Titel der Untersuchung, die gestern vorgestellt wurde. Das klingt nüchtern und etwas sperrig - genauso wie die vielen Statistiken, die darin enthalten sind. Doch die Ergebnisse des Deutschen Jugendinstituts haben es in sich - und zeichnen zum ersten Mal ein Bild darüber, wie es nach den vielen Missbrauchsfällen, die in den vergangenen Monaten bekannt geworden sind, tatsächlich an deutschen Schulen und Heimen aussieht. "Wir hatten keine Erkenntnisse über das Ausmaß", sagte Thomas Rauschenbach, Direktor des Jugendinstituts.

Jetzt sind die Erkenntnisse da. In konkreten Zahlen sehen sie so aus: Schulen sahen sich zu 43 Prozent mit Verdachtsfällen auf sexuelle Gewalt konfrontiert, Internate zu knapp 40 Prozent, Heime sogar zu über 70 Prozent. Mit 82 Prozent sind Mädchen wesentlich häufiger betroffen als Jungen. Die verdächtigten Täter sind überwiegend männlich.

Die Untersuchung ist eine sogenannte Hellfeldstudie. Sie stützt sich auf freiwillige Angaben von rund 1100 Schulleitern, 700 Lehrern, 325 Heim- und 100 Internatsleitungen - sagt also nichts über die Dunkelziffer aus, die auch das Jugendinstitut deutlich höher einschätzt. Es geht aktuell also um alle Fälle, die in der Institution irgendwie bekannt oder gemeldet wurden - ob sie nun innerhalb oder außerhalb stattfanden, ob sie sich bewahrheiteten oder nicht. "Wir bewegen uns hier in einer Grauzone", sagte Rauschenbach - und meint damit auch einen zweiten Befund der Studie. Erzieher, Lehrer oder sonstige Angestellte der Einrichtungen stehen zu vier Prozent unter Tatverdacht. Erstaunlich oft sind es allerdings Jugendliche selbst, die Gleichaltrige mit sexuellen Übergriffen terrorisieren - zu rund 16 Prozent in Schulen, sogar 39 Prozent in Heimen. Den größten Teil machen jedoch Fälle außerhalb der Einrichtungen aus. Jeder dritte in einer Schule berichtete Verdacht richtete sich an das familiäre Umfeld.

Christine Bergmann hat die Studie beim Jugendinstitut in Auftrag gegeben. Sie ist die unabhängige Beauftragte der Bundesregierung zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Fast anderthalb Jahre ist es jetzt her, als eine ganze Welle von Missbrauchsfällen vor allem an kirchlichen Einrichtungen bekannt wurde und Bergmann dieses Amt übernahm. Sie hat eine Anlaufstelle für Betroffene eingerichtet. Seit April 2010 haben sie rund 16 000 Anrufe erreicht und 2500 Briefe. "Missbrauch ist nicht ein Thema der Vergangenheit", sagte Bergmann gestern. Die ehemalige Bundesfamilienministerin und SPD-Politikerin fordert nun Konsequenzen für die Aus- und Fortbildung von Pädagogen: "Eine zusätzliche Qualifizierung und Sensibilisierung der Lehrkräfte ist dringend notwendig." Auch Vertrauenspersonen im Sport oder der Freizeit sollten ausgebildet sein, um auf Fälle von Kindesmissbrauch angemessen reagieren zu können. "Rund 50 Prozent der Fälle werden über die Kinder selbst gemeldet", so Bergmann. Dann sei es wichtig zu handeln: "Die Lehrer müssen wissen, wie sie mit Kindern umgehen, die ihnen von Missbrauch berichten." Derzeit gebe es sehr viel Hilflosigkeit im Umgang mit den Fällen.

Der SPD-Bildungsexperte Ernst-Dieter Rossmann will noch einen Schritt weitergehen. "Es ist wichtig, dass alle, die mit Kindern arbeiten, für das Thema Missbrauch sensibilisiert werden. Das gilt auch für Lehrer und vor allem für Verantwortungsträger, also Schulleiter oder Vereinsvorstände", sagte er dem Abendblatt. Ein wichtiger Faktor sei hier auch die Schulsozialarbeit. "Manchen betroffenen Kindern fällt es unter Umständen leichter, sich einer außenstehenden Person anzuvertrauen." Rossmann plädierte für ein verbessertes Konfliktmanagement an Schulen, Kitas und Vereinen. "Zum Schutz der Opfer ist eine saubere und reibungslose Zusammenarbeit zwischen Einrichtungen, Justiz und Beratungsstellen wichtig. Hier muss in Zukunft nachgebessert werden."

Auch die katholische Kirche hat gestern angekündigt, sexuellen Missbrauch an ihren Institutionen nun durch unabhängige Wissenschaftler und Juristen aufarbeiten zu lassen - und dazu zwei Forschungsprojekte in Auftrag gegeben. Eines wird von Christian Pfeiffer vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) geleitet, das andere von Norbert Leygraf von der Universität Duisburg-Essen. Weltweit gebe es keine vergleichbare Aufarbeitung wie die der katholischen Kirche in Deutschland, sagte Pfeiffer. Der Kriminologe plant nicht weniger als die Sichtung sämtlicher Personalakten von Priestern, Diakonen und Ordensmännern aller deutschen Diözesen aus den Jahren 2000 bis 2010 auf Missbrauchsvergehen. Außerdem sollen in neun Bistümern sämtliche Bestände seit 1945 durchforstet werden. Insgesamt geht es um mehr als 100 000 Akten, schätzt Pfeiffer. Die Bischöfe wollten eine "ehrliche Aufklärung" und "der Wahrheit auf die Spur kommen", sagte der Trierer Bischof und Missbrauchsbeauftragte Stephan Ackermann. Dabei geht es auch um die Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit. Infolge der Missbrauchsskandale der katholischen Kirche traten 2010 180 000 Katholiken aus der Kirche aus - ein Anstieg um 40 Prozent.