Die Deutsche Bahn verkündet einen vorläufigen Baustopp des Milliardenprojekts Stuttgart 21. Die Bahnhofsgegner jubeln bereits.

Hamburg/Stuttgart. Nach dem grün-roten Wahlsieg vom Sonntag dauert es ungefähr 36 Stunden, bis man sich in Vorstandsetagen der Deutschen-Bahn-Zentrale in Berlin an die alte Indianer-Weisheit zu erinnern scheint: "Wenn du entdeckst, dass du ein totes Pferd reitest - steige ab." So teilte der Bahn-Infrastruktur-Vorstand Volker Kefer gestern Morgen mit, sein Unternehmen habe einen vorläufigen Baustopp für das Milliardenprojekt Stuttgart 21 verhängt. "Bis zur Konstituierung der neuen Landesregierung wird die Deutsche Bahn keine neuen Fakten schaffen - weder in baulicher Hinsicht noch bezüglich der Vergabe von Aufträgen", sagte Kefer. Die Regierungsmannschaft des voraussichtlichen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann (Grüne) soll im Mai stehen.

Von einer Aufgabe des Projekts will der Bahnmanager freilich noch nicht sprechen. Unabhängig vom Bau- und Vergabestopp gelte der mit den Projektpartnern geschlossene Vertrag uneingeschränkt. "Schließlich ist das Land Baden-Württemberg und nicht die jeweilige Landesregierung unser Vertragspartner." Es werde weiterhin mit Hochdruck an dem im Schlichterspruch vereinbarten Stresstest gearbeitet. Dabei soll in Rechensimulationen geprüft werden, ob ein neuer Bahnhof einen 30-prozentigen Zuwachs an Zügen und Passagieren verkraftet. In dem, was die Bahn als freundliches Warten auf die nächste Regierung verkauft, sieht Gangolf Stocker etwas ganz anderes: "Das ist der Einstieg in den Ausstieg", jubelt der Künstler, 66, mit der schlohweißen Mähne. Der Stuttgarter Stadtrat ist Sprecher und Mitbegründer der Protestbewegung gegen Stuttgart 21, die ähnlich der Anti-Atomkraft-Bewegung mittlerweile in allen Schichten der Gesellschaft wurzelt. Seit fünfzehneinhalb Jahren stemmt er sich gegen die Tieferlegung des Bahnhofs, die seiner Ansicht nach zu teuer und ineffizient ist und zudem von Politikern und Unternehmern am Volk vorbei beschlossen worden sei.

Stocker und all die anderen Gegner könnten für ihre Geduld belohnt werden. Denn nun hat die Bahn die Verhandlungen für Bauaufträge gestoppt, die, einmal abgeschlossen, die öffentliche Hand mehrere Hundert Millionen Euro gekostet hätten. Dazu gehört der Bau eines Tunnels vom Stuttgarter Talkessel bis zum Flughafen und die Verlegung von 17 Kilometer Rohrleitungen für das Grundwassermanagement in der Innenstadt. Dass die Bahn im Mai weiterbauen könnte, mag Politaktivist Stocker nicht glauben: "Mit welcher Begründung sollte sie das tun? Es ist doch jetzt schon klar, wer die Regierung stellen wird." Nein, sagt Stocker, "ich bin sicher, wir stehen kurz vor dem Ziel". Das scheinen viele der Bahnhofsgegner ähnlich zu sehen: Am Tag der Kefer-Erklärung feierten sie im Schlosspark und am Bahnhof die Baupause, als hätten sie den Konflikt bereits gewonnen.

Auf der politischen Ebene gibt man sich nach der Kefer-Erklärung dagegen betont zurückhaltend. "Es ist nur folgerichtig, dass in der derzeitigen Situation keine weiteren Fakten geschaffen werden dürfen", erklären der designierte Ministerpräsident Kretschmann und sein Partner von der SPD, Landeschef Nils Schmid, gemeinsam in Stuttgart. Zunächst müsse klar sein, welche Auswirkungen der geplante Stresstest auf das Projekt habe. "Und danach muss das Volk über das Projekt entscheiden."

Für dieses Referendum haben sich beide Parteien bereits im Wahlkampf ausgesprochen. Es ist ihr kleinster gemeinsamer Nenner, denn eigentlich sind nur die Grünen von Anfang an gegen Stuttgart 21 zu Felde gezogen, während es die SPD zunächst befürwortete. Ein mitinitiierter Volksentscheid ist für die Sozialdemokraten die Chance, gesichtswahrend die Position zu wechseln. Kretschmann dagegen, der mit dem Versprechen stärkerer Bürgerbeteiligung in die Wahlen gezogen ist, erhielte durch ein Plebiszit gegen Stuttgart 21 die nötige Legitimierung, das Projekt zu beerdigen, obwohl die Bahn in diesem Fall bislang Schadenersatz in Höhe von 1,5 Milliarden Euro geltend machen wollte.

Der Bau- und Vergabestopp müsse nicht bis zur Regierungsbildung, sondern bis zum Volksentscheid gelten, heißt es in der SPD-Landtagsfraktion. Sollte der Stresstest nicht so negativ für die Bahn ausfallen, wie Kretschmann es immer beschworen hat, stellt diese Abstimmung für Grün-Rot die Möglichkeit dar, auf eigene Art und Weise Fakten zu schaffen. Sollten die Bahn-Chefs ein Votum gegen Stuttgart 21 ignorieren, müssten sie sich angesichts der massiven Front der Projektgegner wohl mit der moderneren Fassung der Indianer-Weisheit vertraut machen. Sie lautet: "Wenn du entdeckst, dass du ein totes Pferd reitest - besorg dir einen bequemen Sattel. Es könnte ein langer Ritt werden."