Fiskus steht vor Mehreinnahmen von 61 Milliarden Euro. Ver.di warnt vor Steuersenkungen - Wirtschaftsminister hingegen sieht Spielräume.

Berlin/Hamburg. Der Chef der größten deutschen Einzelgewerkschaft Ver.di, Frank Bsirske, hat sich kritisch zu erneuten Forderungen aus der schwarz-gelben Koalition nach Steuersenkungen geäußert. "Was uns da begegnet, ist eine umgekehrte Robin-Hood-Mentalität", sagte Bsirske dem Abendblatt. Steuersenkungen nützten vor allem den Besserverdienern und erhöhten den Druck auf die staatlichen Haushalte. "Das führt zu weiterem Sozialabbau", warnte der Ver.di-Chef.

Bsirske reagierte damit auf die gestern bekannt gewordene Prognose des Arbeitskreises Steuerschätzung. Danach können Bund, Länder und Gemeinden bis Ende 2012 mit 61 Milliarden Euro mehr Steuern rechnen als geplant. Dies wäre eine der stärksten Einnahmeverbesserungen in der 55-jährigen Geschichte des Arbeitskreises. Allein für dieses Jahr rechnen die Experten mit einem Einnahmeplus von 15,2 Milliarden Euro im Vergleich zu ihrer Mai-Prognose. 2011 werden Mehreinnahmen von 22,4 Milliarden Euro, 2012 sogar von 23,4 Milliarden Euro erwartet.

Bundeskanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble (beide CDU) erteilten Forderungen aus den eigenen Reihen nach raschen Steuersenkungen erneut eine Absage. "Wir werden dieses Jahr im Bundeshaushalt immer noch um die 50 Milliarden Euro Schulden machen", sagte Merkel. Allenfalls geringe Senkungen durch eine Steuervereinfachung seien denkbar.

Dagegen sieht Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) durchaus Spielräume für Steuersenkungen. "Wir wollen auch den Freiraum schaffen, dass wir steuerlich die Mitte entlasten." Er gehe fest davon aus, dass Schwarz-Gelb noch in dieser Wahlperiode gemeinsam handeln werde, sagte Brüderle.

FDP-Finanzexperte Hermann Otto Solms sagte dem Abendblatt, Steuersenkungen seien aber "frühestens in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode" möglich. Voraussetzung sei allerdings, dass das wirtschaftliche Wachstum anhalte und sich der Arbeitsmarkt weiter positiv entwickele. Gegenwärtig habe die Haushaltskonsolidierung absoluten Vorrang. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt forderte die Bundesregierung auf, "konsequent an ihrem Konsolidierungskurs festzuhalten".

Auch die Mehrheit der Deutschen will die sprudelnden Steuereinnahmen zum Abbau der Staatsverschuldung verwenden. Dafür sprachen sich 57 Prozent der Befragten im neuen ARD-Deutschlandtrend aus. Im April lag der Anteil noch um sechs Prozentpunkte höher. 23 Prozent wollen die Spielräume nutzen, um die Steuern zu senken. Gegenüber der vorherigen Umfrage sind das elf Punkte mehr.

Wie sich das Steueraufkommen in Hamburg gestaltet, wird erst in der übernächsten Woche, am 16. November, bekannt gegeben. Bis dahin will sich die Behörde von Finanzsenator Carsten Frigge (CDU) zu möglichen Mehreinnahmen nicht äußern. Spekulationen der Opposition, Hamburg könnte in diesem Jahr bis zu 700 Millionen Euro mehr einnehmen, seien nicht seriös. Bis Ende Juni 2010 hatte die Hansestadt bereits 3,983 Milliarden Euro an Steuern eingenommen. Für das gesamte Jahr 2010 plant Hamburg bislang noch mit Steuereinnahmen von 7,511 Milliarden Euro, für das kommende Jahr mit einem Aufkommen von 7,547 Milliarden Euro. Ob sich diese Zahlen ähnlich der bundesweiten Steuerschätzung erhöhen werden, ist jedoch noch offen.