Ein Jahr regieren Angela Merkel, Guido Westerwelle und ihr Kabinett. Das einstige Traumpaar führt jetzt eine Zweckehe - und regiert endlich.

Berlin. Lang ist's her, da sprach Guido Westerwelle große Worte über eine politische Freundschaft aus. Er redete von einer "Schicksalsgemeinschaft", von menschlicher Nähe, persönlicher Sympathie, von Verlässlichkeit auch "in schwierigster Zeit". Er sprach von seinem Verhältnis zu Angela Merkel - es war zu Zeiten der Großen Koalition.

Seit einem Jahr regiert die vermeintliche Schicksalsgemeinschaft. Die Vorsitzenden von CDU und FDP traten am 28. Oktober 2009 als Wunschpartner an. Heute weiß man: Die Bundeskanzlerin und ihr Stellvertreter führen nicht mehr als eine politische Zweckehe. Eine Zeit liegt hinter Merkel und Westerwelle, die beide sich so nicht vorgestellt haben. Die FDP ist in der Wählergunst von 14,6 Prozent bei der Bundestagwahl auf vier Prozent in den Umfragen gefallen. Ihr Vorsitzender muss sich fragen lassen, ob er mit der Wahl des Außenministeramtes einen Fehler begangen hat. Die Union kratzt an der 30-Prozent-Marke. Und die Kanzlerin muss sich fragen lassen, warum sie einen Ministerpräsidenten nach dem anderen verliert. Man könnte die Umfragewerte auf eine Krise im Land zurückführen - doch die gibt es nicht. Die Wirtschaft brummt wieder, die Arbeitslosigkeit sinkt auf unter drei Millionen. Aber lediglich neun Prozent wollen einen Beitrag der Regierung am derzeitigen Wohlergehen des Landes erkennen.

Das schwarz-gelbe Dilemma begann bereits am ersten Tag der Regierungsverantwortung: Der Koalitionsvertrag war hastig ausgehandelt worden. Nicht einmal auf eine klare Botschaft für die kommenden Jahre hatten sich CDU, CSU und FDP einigen können, nur auf ein Allerlei aus Vorhaben, die auch noch mit Vorbehalten versehen wurden. Der Streit war programmiert, er kam, und er blieb.

Mit der Gesundheitspolitik ging es los. FDP und CSU balgten sich, man nannte einander Wildsau und Gurkentruppe. Man einigte sich im Rahmen des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes darauf, Hoteliers eine Mehrwertsteuersenkung zu gewähren. Angelastet wurde die Entscheidung vor allem der FDP. Die Kanzlerin konzentrierte sich auf die Euro-Rettung und die Griechenland-Hilfen. Ihr strikter Stabilitätskurs kam gut an in Deutschland, nur die Nachbarn ätzten über "Madame Non". Dennoch gab es wieder Streit: Die Liberalen forderten trotz Euro-Bürgschaften schnelle Steuersenkungen und eine Steuerstrukturreform, bissen bei Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) aber auf Granit. Alle umstrittenen Projekte rührte die Koalition vorerst nicht an. Man wartete auf die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, um sie dann zu verlieren. Die Koalition hatte noch gar nicht angefangen zu regieren, da hielt sie sich bereits mit Durchhalteparolen über Wasser.

Mit der Planung des Sparpakets verabschiedete sich die Koalition in die Sommerpause. Erst bei der Vorstellung des 80-Milliarden-Programms vermittelten Merkel und Westerwelle den Eindruck, sie seien sich einer Sache wirklich einig. So wie Westerwelle bedeutungsschwer ein Jahr zuvor über Merkel gesprochen hatte, so wählte nun die Kanzlerin Worte mit Gewicht: "Ich darf sagen, dass die letzten Stunden, so denke ich, schon ein einmaliger Kraftakt waren." Westerwelle nickte. Ein halbes Jahr nach dem Koalitionsstart bekamen die Deutschen einen ersten Eindruck davon, wie es ist, von Schwarz-Gelb regiert zu werden.

Heute wissen sie es besser. In einem "Herbst der Entscheidungen" peitschen Merkel und Westerwelle Reformprojekte im Wochentakt durch: Dem Sparpaket folgte die Verlängerung der Atom-Laufzeiten und die Gesundheitsreform. Dem Aussetzen der Wehrpflicht folgte die Sicherungsverwahrung für Schwerverbrecher - und fast nebenbei auch die Neuberechnung von Hartz IV. Mehr als Merkel geht es dabei Westerwelle bereits ums politische Überleben. Der FDP-Chef hadert mit dem Spagat zwischen Innen- und Außenpolitik, zwischen Parteiamt und Regierungsverantwortung. In seine Bilanz fallen außenpolitische Erfolge wie das Erringen eines nicht ständigen Sitzes im Weltsicherheitsrat, aber auch Aussetzer wie sein Wort von der "spätrömischen Dekadenz" in der Hartz-IV-Debatte. Merkels Reaktion darauf spricht bis heute Bände: Westerwelles Worte entsprächen "nicht dem Duktus der Kanzlerin", ließ sie ausrichten. Die Sprachführung, die jeder wähle, sei sicher individuell unterschiedlich. Union und FDP, vor allem Merkel und Westerwelle, haben im ersten Regierungsjahr feststellen müssen, dass die kulturellen Gräben tiefer waren als geahnt.

Pünktlich zum Jubiläum schwelt zwischen ihnen der nächste Konflikt, diesmal um die Stabilitätsmaßnahmen für den Euro. Mehrere Tage echauffierte sich Westerwelle über die Vereinbarungen, die Merkel mit Frankreichs Präsidenten Nicolas Sarkozy getroffen hatte. Inzwischen protestiert der FDP-Chef nur noch subtil. "Ich schaue nicht zurück, ich schaue nach vorne", sagte er am Montag. Konsens klingt anders.