In Berlin-Neukölln schimpfen Türken und Deutsche vereint auf die ungeliebten Nachbarn. Seit zwei Jahren gibt es einen massiven Zuzug der Roma.

Berlin. Der Mann mit dem schwarzen Hut, dem dicken Bauch und den spitzen Schuhen sieht aus, als würde er gleich anfangen, Geige zu spielen und auf dem Tisch zu tanzen. Doch auf dem Tisch liegt nur ein Schulheft, quer liniert, darin seitenweise die Buchstaben "k" und "u". Sasa, der Mann mit dem Hut, ist ein polnischer Roma und will lesen und schreiben lernen. Es wird Zeit, sagt er und lacht, schließlich sei er schon über 50 Jahre alt. Als er den Kursusraum in einer Neuköllner Siedlung betreten hat, zischte ein türkischer Nachbar leise "Zigeuner".

Aleksander Stankovic kommt aus Serbien, er unterrichtet Sasa auf Romanes, der Sprache, die jeder Roma versteht. Auch Stankovic ist Roma, vor 13 Jahren flüchtete er vor dem Kosovokrieg. Stankovic lebt seitdem in Berlin, er hat es geschafft, sich zu integrieren. Als Sozialarbeiter vermittelt er zwischen Roma und Behörden. Sein älterer Sohn geht aufs Gymnasium, er ist einer der Besten in der Klasse. Dass er Roma ist, weiß er nicht. Stankovic will es ihm erzählen, irgendwann.

Der Kursus findet statt in der sogenannten High-Deck-Siedlung an der Neuköllner Sonnenallee. Die Wohnungen hier sind durch Fußgängerbrücken und -inseln (High Decks) verbunden, in den 70ern war das Inbegriff für modernes Wohnen am grünen Rand der Stadt, autofrei, kinderfreundlich. Heute sind von den Deutschen nur die Senioren geblieben. Nach der Wende zogen vermehrt Ausländer hierher, türkische Familien, arabische, in den vergangenen Jahren kamen viele Osteuropäer. Vor zwei Jahren gab es dann einen massiven Zuzug von Roma-Familien. Um die 30 Großfamilien wohnen hier, darunter etwa 100 Kinder.

Im Sommer schliefen die Leute auf den Balkonen. Die Roma waren laut, benutzten Treppenhäuser und Grünanlagen als Toiletten, tranken viel Alkohol. Die deutschen Mieter und die türkischen Familien gingen auf die Barrikaden. Ein paar Roma-Familien sind wieder abgezogen, einigen wurde die Wohnung gekündigt, andere sind geblieben und wollen in Berlin sesshaft werden. Das Neuköllner Quartiersmanagement versucht, die Roma für Alphabetisierungskurse zu begeistern und ihre Kinder in die Schule zu bringen.

200 000 Menschen seien in der jüngeren Vergangenheit in Berlin untergetaucht, behauptet der Bund Deutscher Kriminalbeamter. Viele von ihnen sind vermutlich Roma. Genaue Zahlen gibt es nicht - staatliche Statistiken dürfen nicht nach der ethnischen Herkunft fragen. In Neukölln mit seinen 160 verschiedenen Ethnien können die Roma gut untertauchen. Immer wieder gibt es Beschwerden aus neuen Straßenzügen, wo Roma unterschlüpfen, sagt Arnold Mengelkoch, der Migrationsbeauftragte von Neukölln. Man fürchtet, dass das Ziel der jüngst aus Frankreich abgeschobenen Roma nun das deutsche Nachbarland ist. Und dort bevorzugt Berlin, und dort eben Neukölln. Viele Roma aus Ex-Jugoslawien leben schon lange in Berlin, sie haben einen festen Mietvertrag, einige von ihnen arbeiten als Anwälte, Ärzte, es hat sich eine Roma-Elite gebildet. Doch die wenigsten von ihnen geben sich als solche zu erkennen. Sie fürchten das Stigma des klauenden, bettelnden Roma.

Nun wandern vermehrt bildungsferne Familien aus Rumänien und Bulgarien zu, als EU-Bürger genießen sie Freizügigkeit. Für einige Hartz-IV-Empfänger und Kleinkriminelle ist der Zuzug zum Geschäft geworden: Sie vermieten ihre Wohnungen für zehn Euro unter - pro Nacht und Matratze.

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"Die EU hat ein Riesenproblem", sagt Jens-Jürgen Saurin, Leiter einer Sonderschule in Neukölln. Rund ein Drittel seiner Schüler sind Roma. "Die Leute ziehen von Land zu Land, werden vertrieben, kein Land hat ein Konzept, wie es mit ihnen umgeht." 80 Prozent der Familien seiner Schüler werden vom Jugendamt betreut. Auf die Schule an der Neuköllner Sonnenallee gehen die Kinder der stadtbekannten kriminellen Clans. Mit den Roma-Kindern ist der Unterricht am härtesten. Sie kommen in die vierte, fünfte Klasse und können oft nicht ein Wort lesen und schreiben. "Diese Kinder sind nur mit spezieller Betreuung aufzufangen", sagt Saurin, manche könnten nicht einmal eine Schere oder einen Stift halten. Nach dem Unterricht gehen die Kinder auf die Straßen, in die Kaufhäuser, die Mädchen werden früh dazu angehalten, im Haushalt zu helfen, einige Jungen gehen auf den Strich. Rund ein Fünftel der Schüler aus der zehnten Klasse ist bereits verheiratet. "Wenn wir diese Kinder nicht mehr auffangen, hat die Gesellschaft ein Riesenproblem", sagt Saurin. Doch seine Schule ist wie alle Förderzentren zur Auflösung vorgesehen. 2013 sollen die Kinder auf Gesamtschulen verteilt werden. Dann werde sich eine kleine Katastrophe ihren Weg bahnen, meint der Direktor.

Der Bezirk leistet viel. In der High-Deck-Siedlung gibt es nicht nur Alphabetisierungskurse für Roma, sondern auch kostenlose Kurse über gesunde Ernährung, den Umgang mit alten Menschen, "Deutsch für den Beruf" oder Kurse als Reinigungshelfer. "Viele Migrantinnen wollen putzen gehen", sagt die Soziologin Ines Müller. Einen Berufsabschluss hat hier kaum jemand. Die Deutschkurse, immerhin fünf wöchentlich, "platzen aus allen Nähten", sagt Müller.

Der Gang zum Jobcenter jedoch ist für viele Roma undenkbar. Sie sehen den Staat als Feind. "Hier müssen wir erst Kulturarbeit leisten", sagt Müller. Viele Kinder aus den Großfamilien etwa könnten "meins" und "deins" nicht unterscheiden. Werden sie auf Kindergeburtstage eingeladen, stecken sie die Geschenke ein. "Diese archaische Haltung können sie hier nicht leben", sagt der Integrationsbeauftragte Mengelkoch. "Das muss Deutschland erwarten können."