Die Partei hadert mit ihrem konservativen Profil. Die Führungsspitze will modern wirken und zugleich aber ihre Stammwähler behalten.

Hamburg. Zurzeit muss sich die CDU mal wieder mit der Frage herumschlagen, wo denn das Konservative bleibe. Die Frage an sich ist nicht neu - ob sie gestellt wird, hängt von Umfragetrends oder Wahlergebnissen ab -, neu ist bestenfalls die Genervtheit, mit der Führungspolitiker darauf reagieren. So hat Niedersachsens Ministerpräsident David McAllister gerade erklärt, Konservative hätten in der CDU stets eine Heimat gehabt und würden dort auch künftig ihre Heimat finden. Punktum. Die Debatte um eine mögliche neue Partei rechts von der Union, so der 39-Jährige apodiktisch, sei "virtuell". Dazu meint einer wie Wolfgang Bosbach nur spöttisch, McAllister könne sich ja mal die Briefe und Mails anschauen, die bei ihm, dem Vorsitzenden des Innenausschusses, so landeten. Und zwar gleich körbeweise.

Bosbach ist einer der alten Hasen im CDU-Betrieb. Einer, der an der Partei der neuen Mitte, die Angela Merkel propagiert, leidet. Nicht etwa, weil er verbohrt wäre - das passt gar nicht zu seiner rheinischen Frohnatur -, sondern weil er sich quasi täglich darüber ärgern muss, dass die Partei, der er 1972 beigetreten ist, ihre Konturen verloren hat. Zu allen wichtigen Themen, so Bosbach verzweifelt, gebe es inzwischen die unterschiedlichsten Meinungen. "Der eine hält das für modern, weil wir damit unser Angebot vergrößern, der andere sagt: ,Jetzt wissen die Leute gar nicht mehr, wofür die Union eigentlich steht.'" Auf der Suche nach Leidensgenossen hat sich Bosbach dem vor einem knappen Jahr gegründeten Arbeitskreis engagierter Katholiken angeschlossen. Dem geht es darum, "katholische Wähler zurückzugewinnen, die sowohl der CDU als auch der CSU zunehmend den Rücken kehren - durch Wahlenthaltung oder Abwanderung zu anderen Parteien".

Tatsächlich vermutet man ja unter den Katholiken am ehesten die Konservativen in der Union. Und tatsächlich wirkte es vor fünf Jahren revolutionär, dass erstmals eine Protestantin auf dem Unions-Ticket ins Kanzleramt aufsteigen konnte. Seitdem hat es sich eingebürgert zu behaupten, Angela Merkel habe das konservative Profil der Union verwässert. Wozu die 56-Jährige mit Bemerkungen wie "Ich bin mal liberal, mal christlich-sozial, mal konservativ" durchaus beitrug.

Was aber bedeutet Konservativismus eigentlich? Und: Wie konservativ ist die CDU heute?

Die Enttäuschten blicken erwartungsvoll auf den 7. Oktober, an dem Roland Kochs Buch "Konservativ. Ohne Werte und Prinzipien ist kein Staat zu machen" erscheint. Sie erwarten eine Abrechnung des ehemaligen hessischen Ministerpräsidenten, der sich lange vor Thilo Sarrazin an der Migrantenproblematik die Finger verbrannt hat.

Die Analysten erinnern daran, dass die K-Frage kein neues Phänomen der Merkel-Zeit sei. Schon Helmut Kohl habe sich - meist nach schiefgegangenen Landtagswahlen - die Frage gefallen lassen müssen, ob seine Politik überhaupt noch konservativ genug sei. Allerdings hat Kohl schon äußerlich konservativer auf die Wähler gewirkt als Merkel: der Mann, der sich in Strickjacke mit Michael Gorbatschow fotografieren ließ und in seinem Kanzlerbüro ein Aquarium aufstellte. Und er hatte lange den Vorteil, dass die deutsche Frage noch offen war: Die Forderung nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten einte die Konservativen bis zum Mauerfall mühelos. (Insofern wirkt es ungerecht, wenn Bayerns Ex-Ministerpräsident Günther Beckstein jetzt jammert, zu Kohls Zeiten sei alles besser gewesen.)

Die Pragmatiker, allen voran die CDU-Vorsitzende Angela Merkel, gehen unterdessen davon aus, dass sich allein mit der konservativen Stammwählerschaft für die Union ohnehin keine Wahl mehr gewinnen lässt. Sie beten der Öffentlichkeit immer wieder vor, dass sich "moderne bürgerliche Politik" aus "christlich-sozialem, liberalem und konservativem Denken" speise. So steht es auch in der "Berliner Erklärung", die die CDU-Führung im Januar formuliert hat. Und Hermann Gröhe, Merkels Generalsekretär, pflegt zu sagen, man werbe bei den Stammwählern für die "Weiterentwicklung" der CDU-Politik. Soll heißen: Notfalls machen wir eben ohne die weiter.

Wolfgang Schäuble, der schon vor zehn Jahren gemeint hat, er wisse eigentlich gar nicht, was ein Konservativer sei, erklärte vor ein paar Monaten in einem Interview: "An unserer Politik zu bemängeln, dass die konservativen Werte verloren gingen, ist Unsinn. Diese Haltung diskreditiert im Übrigen auch die Werte. Man darf nicht so tun, als wäre alles, was nicht zurück ins 19. Jahrhundert führt, falsch. Die Welt verändert sich doch fort und fort in einer faszinierenden Weise."

Der amtierende Bundesfinanzminister, der übrigens schon seit 50 Jahren Mitglied der CDU ist, hat damit einen Wesenszug des Wertekonservativismus definiert, auf den sich die Unionsparteien berufen: Angelehnt an den irisch-britischen Staatsphilosophen Edmund Burke treten Konservative heute dafür ein, dass das, was sich - in ihren Augen - bewährt hat, nicht irgendwelchen Zeitströmungen zuliebe einfach über Bord geworfen wird. Sie stehen dem Fortschritt beziehungsweise einer gesellschaftlichen Entwicklung aber keineswegs grundsätzlich ablehnend gegenüber.

Beweise dafür hat die CDU immer wieder geliefert: mit ihrer Entschlossenheit, Deutschland fest im europäischen Staatenbund zu verankern, mit ihrer Bereitschaft, die D-Mark abzuschaffen, mit der kompletten Neuausrichtung der Familienpolitik und dem späten Eingeständnis, dass Deutschland ein Einwanderungsland geworden ist. Und mit den beiden jüngsten Bundesministerinnen aller Zeiten: Claudia Nolte, damals 28, und Kristina Schröder, 33. Der traditionelle politische Konservativismus ist endgültig démodé. Sture Hardliner, die den Kampf gegen die Homo-Ehe oder das geltende Abtreibungsrecht nicht einstellen wollen, gelten nicht mehr als gesellschaftsfähig. Deshalb ist die Angst in der Parteiführung vor einer neuen Partei am rechten Rand, in der sich die Enttäuschten und Unzufriedenen sammeln könnten, auch nur gering. Obwohl sich 18 bis 20 Prozent der Deutschen laut Umfrage vorstellen könnten, konservativer zu wählen, wenn es die Möglichkeit dazu gäbe. Angst, sagt der Politikwissenschaftler Eckhard Jesse, müssten die beiden großen Volksparteien erst dann haben, wenn sich Männer wie der als wirtschaftsliberal geltende Friedrich Merz (CDU), der ehemalige SPD-Bundesfinanzminister Peer Steinbrück und der aus der sozialdemokratischen Partei ausgetretene Wolfgang Clement entschließen würden, gemeinsam eine neue konservative Partei zu gründen. Das, so Jesse, sei aber wohl eher unwahrscheinlich.

Der Begriff Konservativismus leitet sich von lateinisch conservare, "bewahren" oder auch "etwas in seinem Zusammenhang erhalten", ab. Der Konservativismus gehört neben dem Liberalismus und dem Sozialismus zu den drei großen politischen Ideologien, die sich im 18. und 19. Jahrhundert in Europa herausgebildet haben. Utopien sind seine Sache nicht. Vermutlich müssen sich Konservative, anders als Liberale und Sozialdemokraten, deswegen immer wieder gegen den Vorwurf verteidigen, sie seien von gestern. Oder, noch schlimmer, "rechts". Das hat dazu geführt, dass sich viele CDU-Politiker dieses Etikett gar nicht mehr anheften lassen wollen.

Sogar der wertkonservative Unionsfraktionsvorsitzende Volker Kauder schreckt inzwischen davor zurück. "Wir machen Politik auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes, das Christliche ist etwas Revolutionäres", sagt der Merkel-Vertraute. Und, man höre und staune: "Die CDU ist keine konservative Partei."