Bei einer Diskussion in Berlin sprach der Bundesbank-Vorstand wieder einmal über die Unterschicht. Geldmangel sei oft nicht das Problem.

Berlin. Fünfhundert Menschen wollten ihn sehen, Leibwächter bahnten den Weg: Drei Wochen nach seinem Beinahe-Rauswurf aus der SPD hatte Thilo Sarrazin wieder einen großen Auftritt in Berlin und wieder ging es um Unterschichten und Arbeitslose. Geldmangel sei oft nicht das Problem, sagte der für seine Provokationen bekannte Bundesbank-Vorstand am Donnerstagabend. „Viele Dinge, die wir der Armut zuschreiben, haben an sich mit individuellem Verhalten zu tun.“

Es folgten Empfehlungen wie diese: „Menschen können es vielleicht nicht ändern, dass sie keine Arbeit haben, aber was sie ändern können ist, ob sie morgens aufstehen und ihren Kindern ein Schulbrot machen.“ Anlass war die Präsentation des Buchs „Hurra, wir dürfen zahlen“, in dem die „taz“-Journalistin Ulrike Herrmann der Mittelschicht Selbstbetrug vorwirft. Wähler mit mittleren Einkommen, so Herrmann, unterstützten seit Jahren Entlastungen für Besserverdiener. „Die Mittelschicht sieht sich an der Seite der Elite, weil sie meint, dass man gemeinsam von perfiden Armen ausgebeutet würde.“

Sarrazin stimmte in vielen Fragen überein, forderte etwa „eine starke Vermögenssteuer“ und verlangte, Renten und Krankenversorgung durch Steuern zu finanzieren. Er meint aber auch: „Wir waren nie eine gerechte Gesellschaft und werden es auch in Zukunft nicht sein.“ Dann wandte sich der frühere Berliner Finanzsenator den Armen zu: „Die Armut eines Teils der Unterschicht ist nicht die materielle Armut.“ Oft sei es „Sozialisations- und Verhaltensarmut“ – Applaus.

Sarrazin dozierte, dass im sozial schwachen Stadtteil Wedding in 45 Prozent der Kinderzimmer Fernseher stünden, im wohlhabenden Westend aber nur bei 4,4 Prozent. In dem Stadtteil, wo auch Sarrazin wohnt, gebe es auch weniger Fettleibige als anderswo. „Aber das hat nichts mit Geld zu tun“, sagte Sarrazin. „Selbst wenn der Fernseher billig ist, kostet es nicht mehr, ihn aus dem Kinderzimmer rauszuholen.“ Und wenn bei Hartz-IV-Empfängern das Geld für Lebensmittel nicht reiche, liege es oft daran, dass es für Zigaretten oder elektronische Geräte zweckentfremdet werde. „Wer das aus dem Satz für Lebensmittel holt, hat natürlich hinterher die Tendenz, die Kinder in die Suppenküche zu schicken.“

Größere Aufregung lösten die Äußerungen am Freitag nicht aus. Lediglich das Erwerbslosen Forum Deutschland holte zum Gegenschlag aus. Der Arbeitslosenverein nannte den SPD-Politiker am Freitag einen „nicht mehr zu ertragenden Sozialrassisten“ und zählte ihn zu jenen, die mit ihren Parolen die Mittelschicht einlullten, damit diese nicht merke, dass die Gefahr von den Reichen ausgehe, nicht von den Armen.

Doch solche Kritik lässt Sarrazin für gewöhnlich kalt. Der 65- Jährige signierte beim Rausgehen am Donnerstagabend noch eine Zeitschrift mit dem Interview, das ihm beinahe den Rauswurf aus der SPD gebracht hätte. Darin hatte Sarrazin vielen Arabern und Türken in Berlin unterstellt, leistungs- und integrationsunwillig zu sein. „Radikal und bis zum Tabubruch“, urteilte im März eine SPD- Schiedskommission, beließ Sarrazin aber in der Partei. Die Warnung damals: Dies sei „kein Freifahrtschein für alle künftigen Provokationen.“