Karlsruhe ordnet die Löschung aller Verbindungsdaten an, will aber die Speicherung künftig erlauben - mit strengen Regeln.

Hamburg. Die Vorratsdatenspeicherung ist vom Tisch, wenn auch nur vorerst. Ausdrücklich erklärten die höchsten deutschen Richter gestern in Karlsruhe, dass anlasslose Datenspeicherungen "nicht in Gänze" und "nicht schlechthin" verfassungswidrig seien.

Ausdrücklich verzichtete das Bundesverfassungsgericht darauf, eine umfassende Speicherung zu verbieten oder einzuschränken. Damit nämlich hätten die Richter der EU signalisiert, dass Deutschland der Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung - der Grundlage für das seit 2008 geltende Gesetz - grundsätzlich nicht folgen werde. Ganz so ist es nun nicht gekommen. Die Vorratsdatenspeicherung ist nach dem Richterspruch unter strengen Vorgaben zulässig. Grundsätzlich sind Telekommunikationsdaten laut Urteil "für eine effektive Strafverfolgung und Gefahrenabwehr von besonderer Bedeutung". Sie dürfen deshalb unter strengen Voraussetzungen weiterhin zur Verfolgung und Verhinderung von "schweren Straftaten" gespeichert und verwertet werden.

Nur die jetzige Form der Speicherung der Telekommunikationsdaten aller Bürger ohne konkreten Verdacht ist verfassungswidrig. Alle bislang gespeicherten Daten müssen deshalb umgehend gelöscht werden. Es ist ein Erfolg für die 35 000 Bürger, die im bisher größten Massenklageverfahren in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichts Beschwerde eingelegt hatten.

Die Richter sahen in der Speicherung aller Telefon- und Internetverbindungsdaten für sechs Monate einen "besonders schweren Eingriff in das Fernmeldegeheimnis", weil die Verbindungsdaten inhaltliche Rückschlüsse "bis in die Intimsphäre" ermöglichten und damit Persönlichkeits- oder Bewegungsprofile gewonnen werden könnten. Da zudem Missbrauch möglich ist und die Datenverwendung von den Bürgern nicht bemerkt werde, sei die Vorratsdatenspeicherung in ihrer bisherigen Form geeignet, "ein diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins hervorzurufen", sagte Gerichtspräsident Hans-Jürgen Papier.

Ein grundsätzliches Übermittlungsverbot gilt laut Urteil für Daten von Organisationen, die anonyme Beratung in seelischen oder sozialen Notlagen anbieten. Kommunikationsdaten etwa von Ärzten, Rechtsanwälten oder Journalisten könnten dagegen künftig grundsätzlich erfasst werden. Den Nachrichtendiensten bleibt der Zugriff auf Telefonverbindungsdaten aber weitgehend verwehrt.

Aus Karlsruhe kam mit dem Urteil auch die klare Aufforderung an den Gesetzgeber, "anspruchsvolle" und "klare Regelungen" zur Datensicherheit, Datenverwendung, Transparenz und zum Rechtsschutz der Betroffenen festzulegen. Das Gericht will einen strengen Maßstab für Sicherheitsstandards, die von den Telekommunikationsanbietern umgesetzt werden müssen. Dazu zählen etwa die "anspruchsvolle Verschlüsselung" von Daten oder ein "gesicherteres Zugriffsregime". Zudem bedürfe es einer "transparenten Kontrolle unter Einbeziehung des Datenschutzbeauftragten".

Die Richter betonten, dass die Daten von den einzelnen Telekommunikationsunternehmen gesammelt werden sollen, sodass der Staat niemals selbst in Besitz großer Datenmengen kommen kann. Die Kosten für die neuen Sicherheitsstandards sollen die Unternehmen tragen, da sie von der Telekommunikation profitieren. Aber solange Deutschland das Gesetz nachbessert, dürfen sie gar keine Daten mehr speichern.

Die Telekomwirtschaft ist entsprechend verunsichert. Sie war bei der bisherigen Speicherung finanziell in Vorleistung getreten und verlangt eine Entschädigung. Die Branchenverbände argumentieren, dass die ohnehin hohen Kosten bei dem neuen Gesetz durch aufwendigere Speichervorschriften noch erheblich steigen. "Wir hatten nach altem Gesetz mit Kosten von über 300 Millionen Euro allein für Anschaffungen der nötigen Speichertechnik gerechnet", teilte der eco Verband der Internetwirtschaft mit, der für 500 Unternehmen spricht. "Nunmehr gehen wir davon aus, dass die Kosten für die neue Vorratsdatenspeicherung erheblich steigen."

Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung, der die Massenklage mit initiiert hatte, sieht in dem Urteil dagegen erst den Anfang für weitere Maßnahmen. Der Arbeitskreis forderte die Löschung der Daten in ganz Europa. Dessen Sprecher Patrick Breyer sagte: "Es wäre untragbar, wenn wir in Deutschland nun auf der sicheren Seite sind, während andere Länder weiterhin anlasslos Kommunikationsdaten speichern." Der Europäische Gerichtshof müsse nun entscheiden.