Jubel für den neuen Parteivorsitzenden auf Parteitag in Dresden. Wo geht es hier zur Mitte? Auf ihrem Kongress sucht die SPD nach neuen Strategien und dem richtigen Weg aus der Krise.

Dresden. Drei Minuten Anstandsapplaus, zu dem sich keineswegs alle erheben mochten, und ein gönnerhaftes Schulterklopfen vom Nachfolger - mehr war für Franz Müntefering nicht zu holen in Dresden. Nicht mal ein paar Blümchen haben sich die Genossen am Freitagmittag für ihren scheidenden Parteivorsitzenden abgerungen. Dankbarkeit sieht anders aus.

Aber die hatte Müntefering offenbar auch gar nicht erwartet. Mit rotem Kopf war er um Viertel vor elf ans Rednerpult getreten, um sich zu rechtfertigen. Für die verlorene Bundestagswahl ("Dem Zug der Zeit geschuldet ..."), für den Zustand der Partei ("Wir können und müssen noch besser werden, ja, aber gut sind wir schon"). Er hat dabei ausgesehen wie einer, der pflichtgemäß etwas tut, was er hinter sich bringen muss. Etwas Unangenehmes, aber Unumgängliches. Kein Wunder, dass sich Münteferings Selbstkritik dabei in Grenzen hielt. Zumal er vom öffentlichen Eingeständnis persönlicher Fehler ohnehin nichts hält. Wie hat Franz Müntefering neulich in einem Interview erklärt? Diese Art der "Selbstkasteiung" gehe ihm "gegen den Strich"! Das klang schon nach einer gewissen Alterssturheit. Müntefering wird bekanntlich im Januar siebzig. Und vielleicht ist ja nicht unbedingt die SPD im Bundestagswahlkampf 2009 "aus der Mode" gewesen, wie Franz Müntefering gestern gemeint hat, sondern der alte Mann an der Spitze. Dem es nicht mehr gelang, die Wähler zu erreichen - in "Müntes" Worten: "unsere Unzulänglichkeit, das Richtige, was wir wollen, in konkrete Politik zu fassen".

Fünf geschlagene Stunden haben sich die Genossen in Dresden nach Münteferings Abschiedsrede mit ihrem Wahldesaster und den Folgen beschäftigt. Jeder solle sich mal "richtig auskotzen" dürfen - diese Parole war hinter den Kulissen ausgegeben worden. Gesagt haben in der Tat einige, was sie dachten, aber mit der Adresse hatten die meisten ihre Schwierigkeiten. Müntefering, der sich mit einem trotzigen "Ich bleibe Sozialdemokrat, immer!" aus der Verantwortung verabschiedet hatte, fiel ja als Blitzableiter aus, und der neue Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel hatte sich noch nicht zur Wahl gestellt. Vielleicht war die Atmosphäre auf diesem Parteitag, der erst am Sonntag zu Ende gehen wird, deshalb so kalt. "Auskotzen" - gut und schön. Aber bei wem? Über wen? An der Basis sei man "wütend, enttäuscht und sprachlos", hat die schleswig-holsteinische Delegierte Ulrike Rodust gesagt und "von vielen Monaten des Missvergnügens" in der Partei gesprochen. Rodust forderte den Parteivorstand auf, zur "richtigen politischen Reihenfolge" zurückzukehren: "Erst die Inhalte, dann die Strategie und an dritter Stelle die Personen!" Wohl wissend, dass diese Reihenfolge am Tag nach der Bundestagswahl in einem Berliner Hinterzimmer auf den Kopf gestellt worden ist. "Von drei Genossen und einer Genossin", wie der Hesse Erich Pipa in Dresden resigniert feststellte, ohne die Namen von Sigmar Gabriel, Olaf Scholz, Klaus Wowereit und Andrea Nahles zu nennen. In so einer Vorgehensweise könne er keinen Neuanfang erkennen, hat Pipa bitter hinzugefügt. Es gab auch blanken Zorn. Zum Beispiel bei Klaus Barthel. Der Mann vom Kochelsee hielt der Parteiführung vor, diesen Teil des Parteitags nach der Devise über sich ergehen zu lassen: "Da gehen die üblichen Verdächtigen raus, die Bayern, Schleswig-Holsteiner und Hessen, und die kotzen sich mal g'scheit ab!" Als Barthel so loslegte, verfinsterten sich die Gesichter auf dem Podium zusehends. Mit Kritik hatte man gerechnet, mit solchen Tönen offenbar nicht. Die Stimmung im Präsidium wurde auch nicht besser, als Peter Conradi nach vorne ging, der mit seinen 75 Jahren für sich in Anspruch nehmen kann, so etwas wie der Doyen der SPD zu sein. Auch Conradi war sichtlich wütend. Das Problem der Partei sei es, rief er, dass Entscheidungen nur noch abgenickt würden. Sogar im Parteivorstand, den man jetzt noch einmal aufgebläht habe. Da säßen jetzt noch ein paar "Indianer" mehr, die man zu "Medizinmännern" gemacht habe! Hermann Scheer schlug anschließend in dieselbe Kerbe. Was die SPD jetzt dringend nötig habe, sei eine Re-Demokratisierung. Inhaltlich sei es "ein fataler Denkfehler" gewesen zu glauben, in der Mitte liege das Heil. "Die Mitte ist da, wo nichts ist!" Scheer empfahl seiner Partei, sich den hessischen Wahlerfolg von Andrea Ypsilanti vor Augen zu führen. Das sei "der größte Wahlerfolg des Jahrzehnts" gewesen. Das Wort Linkspartei musste Scheer gar nicht mehr aussprechen - die Delegierten verstanden ihn, wie der Beifall bewies, auch so.

Mehr als fünf Stunden hat sich die Debatte hingeschleppt. Am Ende hatten alle genug. Von den Miesmachern genauso wie von den notorischen Optimisten, die natürlich auch ihre fünf Minuten Redezeit bekamen. Am Ende waren alle froh, als der designierte Parteivorsitzende Sigmar Gabriel mit seiner knapp zweistündigen Rede begann, die er unter das Motto "Kraft zur Erneuerung" gestellt hatte.

Gabriel hat versucht, seine Partei aus der Schockstarre zu befreien, in die sie am 27. September gefallen ist. Er hat sich bemüht, seinen Genossen neue Zuversicht einzuflößen. Auch er hat von der politischen Mitte gesprochen und angekündigt, dass er die "Deutungshoheit" darüber, was und wo diese Mitte denn ist, nicht dem politischen Gegner überlassen will. Am Schluss waren die Delegierten bereit, wieder an das zu glauben, was ihnen der neue Parteivorsitzende so schwungvoll zurief: dass die Idee eines freien, selbstbestimmten und trotzdem solidarischen Lebens ihre Anziehungskraft auch im Zeitalter der Globalisierung nicht verlieren muss. Gabriel schloss seine Rede mit einer chinesischen Lebensweisheit, die besagt, dass keinen Laden aufmachen soll, wer nicht lächeln kann. Er fügte hinzu: "Lasst uns ordentlich Läden aufmachen in Deutschland!" Danach brach Jubel los, und dieses Mal hielt es keinen mehr auf seinem Platz.