In Deutschland leben heute noch Tausende, vielleicht auch Zehntausende Männer und Frauen - die genaue Zahl kennt keiner - gleichen Alters, über deren Schicksal die Scham einen Vorhang gesenkt hat. Sie sind inzwischen 64 und 66 Jahre alt.

Die einen kennen ihre Herkunft und haben bis heute geschwiegen, die ahnungslosen anderen sehen keinen Grund, nach ihrer wahren Herkunft zu fragen. Viele dieser Menschen haben selbst Söhne und Töchter, die nie erfahren werden, dass ihre "Großväter", welch ein liebevoller Begriff trauter Familienmilieus, in Wahrheit gewalttätige und von Rachsucht beherrschte sowjetische Soldaten waren.

70 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs und dem Überfall des Hitlerreichs auf Stalins Sowjetunion 1941 holt die Geschichtsschreibung ein Kapitel ans Licht, das darzustellen man sich Jahrzehnte gescheut hat: die Massenvergewaltigung von zwei Millionen deutscher Frauen in Kellern, Dachböden, Wohnzimmern oder Scheunen durch Angehörige der Roten Armee. Der Völkerrechtler Ingo von Münch, Hamburgs ehemaliger Zweiter Bürgermeister und Kultursenator, hat jetzt die erste Gesamtdarstellung dieses grauenvollen Schlusskapitels des Krieges ans Licht geholt. Der Titel seines Buches ist der Schreckensruf, seit die Russen im Oktober 1944 die Grenze zum deutschen Osten überschritten: "Frau, komm!"

Die Anregung, bald 65 Jahre nach Kriegsende die bestialischen Geschehnisse von damals aufzuzeichnen, bekam der Autor durch die Erzählung einer ehemaligen Schulkameradin in der Mark Brandenburg: "Meine Mutter hat sich ihr Gesicht mit Marmelade und Streuseln darauf beschmiert, um abstoßend zu wirken. Sie ahnte nicht, dass die russischen Soldaten sich statt ihrer der Tochter bemächtigen würden."

Diese Schilderung war für Ingo von Münch der Beginn einer intensiven Erforschung eines dunklen Kapitels der Vergangenheit. Zwei Jahre lang reiste er quer durch die Republik, suchte in Bibliotheken und Universitätsarchiven nach Quellen. Fand er eine, die wiederum auf andere verwies, nahm er abermals die Spur auf. Er stieß auf Schilderungen gequälter Frauen, suchte sie auf und konnte sie bewegen, die Vergangenheit aus der Distanz von Jahrzehnten noch einmal zu schildern. "Wo ich auch nachfragte, musste ich mit größtem Feingefühl an dieses Thema herangehen. Und schnell stellte ich fest, dass jede Quelle, die ich erschloss, wiederum auf eine neue unendlichen Leids verwies." Daraus ist eine akribische und wissenschaftlich fundierte Dokumentation geworden.

Das große Leiden nahm seinen Anfang, als sich die sowjetischen Armeen der Grenze zum Hitlerreich näherten. In jenen Tagen wurde an die Soldaten der sowjetischen Armee ein Flugblatt verteilt, auf dem es heißt: "Tötet. Es gibt nichts, was an den Deutschen unschuldig ist, die Lebenden nicht und die Ungeborenen nicht. Folgt der Weisung des Genossen Stalin und zerstampft für immer das faschistische Tier in seiner Höhle. Brecht mit Gewalt den Rassenhochmut der germanischen Frauen! Nehmt sie als rechtmäßige Beute! Tötet, ihr tapferen Soldaten der siegreichen sowjetischen Armee!"

Für die Gewalt an deutschen Frauen, seit russische Panzer der 11. Gardearmee mit dem ostpreußischen Nemmersdorf am 21. Oktober 1944 die erste deutsche Siedlung eroberten, ist der Rachefeldzug ein Akt der "flächendeckenden" Erniedrigung. Der russische Schriftsteller Anatoli Streljanyi zitierte einen Kollegen, der im Krieg in Deutschland war: "Frau, komm! Bedeutete, sich am Feind zu rächen. Abends erzählten wir uns: Ich habe mich heute dreimal gerächt, und du?" Leisteten Mütter Widerstand, stellten sich vor ihre Töchter, wurden sie kurzerhand erschossen. Die russischen Soldaten nahmen in diesem Rausch der Rache keine Rücksicht auf das Alter der Wehrlosen. Manche waren Kinder, nicht älter als zehn, und manche waren 80-jährige Großmütter. Ingo von Münch zitiert aus einer Dokumentation über den Gewaltrausch sowjetischer Soldaten in Schlesien: "Ein Bauer musste zusehen, wie sein Dienstmädchen von den Russen dreizehnmal hintereinander gebraucht wurde."

Schlimm traf es auch die Frauen in der untergehenden Reichshauptstadt. Nach dem Einmarsch der Russen, nur wenige Tage vor der Kapitulation, sind etwa 100 000 Frauen Opfer des Rachefeldzuges geworden. Aus den Krankenakten der Berliner Kliniken Charité und Kaiserin-Auguste-Victoria-Krankenhaus geht hervor, dass jede fünfte Frau schwanger wurde. 90 Prozent haben die Frucht abtreiben lassen, zehntausend der betroffenen Berlinerinnen haben ihr Kind der Rache zur Welt gebracht. Und 10 000 Berliner Frauen sind an den Folgen des Missbrauchs gestorben.

Die ganze Dimension dieses Kriegskapitels wird aus Schätzungen deutlich: Danach sind zwischen 150 000 und 200 000 "russische Babys" in Deutschland geboren worden. Über den Verbleib dieser Kinder geben die Akten keine Auskunft. Die meisten Mütter ließen die Neugeborenen in den Kliniken zurück. Was aus ihnen geworden ist, blieb undokumentiert, ungeklärte Schicksale.

Der Autor Ingo von Münch hat auf meine Frage, warum er dieses Buch erst jetzt geschrieben hat, geantwortet: "Viele der Opfer und auch deren Nachfahren fühlten sich allein gelassen. Sie konnten mit niemandem über die schrecklichen Erlebnisse sprechen." Als ich das Buch gelesen habe, war mein erster Gedanke: Für die Wahrheit ist es nie zu spät.