Lothar de Maizière war der erste und letzte frei gewählte Ministerpräsident der DDR. Wenn Deutschland der Wiedervereinigung gedenkt, werden andere gefeiert. Karsten Kammholz traf den tragischen Helden der Wende in Berlin.

Es gibt Jahre, in denen Lothar de Maizière in Ruhe gelassen wird. Dann sitzt er in seiner Hinterhof-Kanzlei in der Berliner Chausseestraße, betreut einfach nur seine Klienten und lebt ein von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerktes Leben. 2008 war so ein Jahr.

Und dann gibt es Jahre wie das jetzige, ein Jubiläumsjahr, ein Erinnerungsjahr - 20 Jahre nach dem Mauerfall. Dann ist de Maizière wieder gefragt und soll noch einmal erzählen, wie das damals war mit der Wende, mit Helmut Kohl, mit George Bush, Michael Gorbatschow, Margaret Thatcher und François Mitterrand. In einem Jahr wie diesem erhält er Einladungen zu Podiumsdiskussionen, reist durch Europa und gibt Interviews.

An einem der seltenen ruhigeren Tage, einem sonnigen Montag, nimmt sich Lothar de Maizière mal wieder Zeit für die Kanzlei. Im Büro gegenüber arbeitet seine Frau, auch sie ist Anwältin. "Wirtschaftssachen" mache er, beschreibt de Maizière knapp seine Tätigkeit. In den Regalen stehen auffallend viele Bücher, die sich mit der deutschen Einheit beschäftigen. Denn das ist sein wahres Thema. Auf einem kleinen Konferenztisch liegt sogar der Einigungsvertrag, gebunden in Schwarz-Rot-Gold. "Ein tolles, fantastisches Werk", sagt er und blättert darin. Der Vertrag ist auch sein Vermächtnis, darauf legt er Wert. Das könnte vergessen werden.

Vor wenigen Wochen, am 3. Oktober, hatte de Maizière wieder einen größeren Auftritt. Am Tag der Deutschen Einheit durfte er die "Quadriga" an Michail Gorbatschow verleihen. Da stand er im Weltsaal des Auswärtigen Amts und überreichte dem Russen den Preis in der Kategorie "Dynamik der Hoffnung". Gorbatschow bedankte sich mit einer Umarmung. Als Präsident der Sowjetunion hatte er 1990 den Friedensnobelpreis erhalten. Auch Helmut Kohl wurde weltweit geehrt und wird noch immer jedes Jahr für den Friedensnobelpreis gehandelt.

Die Zwei-plus-vier-Gespräche, die 1990 den Weg zur deutschen Einheit ebneten, werden mit Hans-Dietrich Genscher in Verbindung gebracht, nicht aber mit de Maizière. Und auch der Einigungsvertrag gilt als Verdienst Helmut Kohls. Als Vater der Einheit wird der Altkanzler bezeichnet. Und de Maizière? Heute sagt man, seine Rolle sei mitunter tragisch gewesen. "Ich bin kein Volkstribun", versucht der erste und letzte direkt gewählte Ministerpräsident der DDR zu erklären. "Ich bin kein öffentlicher Mensch."

Aber die Tragik liegt nicht in seinem zurückhaltenden Wesen. Es ist vielmehr die kurze Zeit, in der de Maizière im politischen Deutschland wirkte, die heute wie ein Scheitern wahrgenommen wird: Vor der Wende hatte er keine Rolle gespielt, nach der Wiedervereinigung auch nicht - eine seltsame Politiker-Karriere, für die es keinen Vergleich gibt. In seinem 1996 veröffentlichten Buch nannte er sich zwar selbstbewusst "Anwalt der Einheit". Und doch, neben Kohl und Genscher ist de Maizière eine Randfigur geblieben.

An diesem Sonnabend werden Kohl, Gorbatschow und Bush gemeinsam im Berliner Friedrichstadtpalast bei einer Gedenkveranstaltung der Konrad-Adenauer-Stiftung an die Wende erinnern. De Maizière ist auch eingeladen, er soll aber nicht sprechen. Er, der aus der Sicht des DDR-Bürgers sicher viel zu sagen hätte, ist für diesen Anlass nicht wichtig genug. Man werde ihn im kommenden Jahr, dem Jubiläumsjahr der Einheit, sicher mehr einbinden, verspricht die Konrad-Adenauer-Stiftung.

Auf den ersten Blick hat sich dieser Mann gegenüber damals kaum verändert. Der Bart ist ziemlich derselbe geblieben. Nur ganz so schmal wie damals ist er nicht mehr. Nächstes Jahr feiert der gebürtige Thüringer seinen 70. Geburtstag. Er will auch dann noch weitermachen in seiner Kanzlei. "Ich arbeite, bis ich in die Kiste springe", sagt er trocken. Von seinem Büro hat de Maizière einen ganz besonderen Blick. Jetzt im Herbst, wenn die Bäume den Blick freigeben, kann er das Grab seiner Eltern auf dem Friedhof der Französisch-Reformierten Gemeinde sehen.

Ein historischer Zufall, ein Zum-richtigen-Zeitpunkt-am-richtigen-Ort-Sein spülte ihn im Herbst 1989 an die Spitze der Ost-CDU. Er war als 16-Jähriger in die Blockpartei eingetreten, "aus reinem Opportunismus", wie er zugibt. De Maizière erzählt die Geschichte seines Parteieintritts so: "Mein Lehrer sagte, du musst in die FDJ eintreten, sonst fliegst du von der Schule. Dann sagte meine Mutter: ,Wenn du in die FDJ eintrittst, dann fliegst du hier raus.' Die CDU war ein Kompromiss." Mit diesem Kompromiss konnte er über Jahrzehnte gut leben. De Maizière war nicht einmal Ortskassenführer. "Mein erstes Amt in der CDU war Vorsitzender."

Wie er das wurde? Auch so ein Zufall. Als Vizepräses der Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR hatte er sich in der CDU einen Namen gemacht. Auch als Anwalt war er kein Unbekannter. Als es 1989 in den Blockparteien rumorte und eine unbelastete, am besten auch kirchennahe Führung gesucht wurde, gab es nicht viele Kandidaten. Eigentlich gab es nur ihn. Er sagte nicht Nein. Ein paar Tage später, am 18. November, trat er als Kirchenminister in die Regierung Hans Modrows ein. Dass er mit der SED paktierte, wird ihm bis heute vorgeworfen. Er habe keine reine SED-Regierung gewollt, sagt er zu seiner Verteidigung. "Im Land waren noch 400 000 Sowjetsoldaten stationiert. Ich wollte nicht, dass das Land im Chaos versinkt."

Als de Maizière mit der Politik anfing, wog er 65 Kilo. Für die erste freie Volkskammerwahl ging er an der Spitze der "Allianz für Deutschland" in den Wahlkampf. Helmut Kohl wollte die Wiedervereinigung, die Ost-CDU wollte sie auch - de Maizière, der unbekannte Kandidat, gewann die Wahl. Bei seiner Regierungserklärung am 19. April 1990 sprach er dann von der Hoffnung, eine gemeinsame Mannschaft beider deutscher Staaten zu den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona zu schicken. "Ich konnte mir nicht vorstellen, dass wir so schnell die DDR abwickeln würden." Aber Helmut Kohl hatte da schon anderes im Sinn. Für de Maizière begann die politisch spannendste, aber körperlich kraftraubendste Zeit. Sein Auftrag: Wiedervereinigung. So schnell wie möglich. Eine gewisse, noch etwas schüchtern wirkende Angela Merkel wurde seine stellvertretende Regierungssprecherin. Ihm gefiel die Physikerin, die etwas verändern wollte. "Sie trug Jesuslatschen und selbst genähte Röcke", erinnert er sich an die ersten Begegnungen mit Merkel.

Nach der Volkskammerwahl arbeitete de Maizière ununterbrochen. Er reiste, konferierte, traf die wichtigsten Staatenlenker der Welt, tafelte und verhandelte mit ihnen, formulierte den Einigungsvertrag mit und regierte nebenbei die Trümmer der DDR. "Am 3. Oktober 1990 wog ich nur noch 51 Kilo. Ich war bei der Wiedervereinigung völlig am Ende", sagt er. "Ich hatte monatelang nur drei bis vier Stunden geschlafen und von Zigaretten und Kaffee gelebt." Aber es musste weitergehen. Kohl machte de Maizière zum Bundesminister für besondere Aufgaben. Ein Amt, das er besser nicht hätte annehmen sollen, wie er heute weiß. "Eigentlich wollte ich am Tag der Wiedervereinigung zurücktreten", sagt er. "Mein Regierungsauftrag bei der letzten DDR-Wahl war, die DDR abzuschaffen und die Einheit Deutschlands herzustellen. Das hatte ich erfüllt. Ich hätte danach besser nach Hause gehen sollen." Er tat es aber nicht, und kurze Zeit später schrieb der "Spiegel", de Maizière sei "Czerni" gewesen, ein Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit. Er bestreitet dies bis heute, trat aber wegen des zunehmenden öffentlichen Drucks am 17. Dezember 1990 zurück. Einige Monate später gab er auch sein Bundestagsmandat auf.

Bonn war nicht seine Welt geworden, und mit Helmut Kohl hatte es auch nicht wirklich funktioniert. "Bis zur Wiedervereinigung haben wir fair und respektvoll miteinander gearbeitet. Danach wurde es schwierig", sagt de Maizière vorsichtig. "Wir haben uns nicht sonderlich gemocht." Dafür verstand sich de Maizière umso besser mit Wolfgang Schäuble, damals Kohls Innenminister. Diese enge Freundschaft schien dem Kanzler zu missfallen. "Auch deshalb bin ich bei Kohl in Ungnade gefallen", glaubt er.

Während er Bonn den Rücken kehrte und zurück in den Anwaltsberuf ging, fand sich eine seiner wichtigsten Weggefährten aus der Wendezeit in der Bonner Republik immer besser zurecht: Angela Merkel. Dass sie 1991 Frauenministerin wurde, hatte auch mit de Maizière zu tun. "Kohl wollte ein weiches Ressort mit einer ostdeutschen Frau besetzen. Da habe ich Angela Merkel vorschlagen." De Maizière hört es gern, wenn er als Merkel-Entdecker bezeichnet wird. Aber er gibt auch zu, Merkel anfangs unterschätzt zu haben: "Was ich ihr nicht zugetraut habe, war dieses Durchsetzungsvermögen." Als Kohl 1998 abgewählt wurde, verfolgte de Maizière staunend Merkels Durchmarsch an die Parteispitze. Heute ist einer engsten Vertrauten der Kanzlerin auch ein de Maizière: ihr neuer Innenminister Thomas de Maizière, Lothars Cousin. Lothar de Maizière hat all das aus gesunder Entfernung beobachtet. Wie gehabt ist er nur in den Jubiläumsjahren als Ex-Politiker gefragt. Aber er findet das gut so. "Ich war nicht lang genug in der Politik, um nach ihr süchtig zu werden." Seit 1995 raucht er nicht mehr, Kaffee trinkt er noch in Maßen. Das Leben nach der Politik war das beste. Als ob es eines Beweises bedarf, sagt er: "Jetzt wiege ich 74 Kilo."