“Wachstum. Bildung. Zusammenhalt.“ Drei Worte, drei Punkte, kein Ausrufezeichen, kein Appell. Kein “Gemeinsam für Deutschland“, wie es vor vier Jahren die große Koalition forderte. Kein ideologischer Aufruf zu “Mehr Freiheit wagen!“, wie man es von einer schwarz-gelben Regierung erwarten würde.

Keine neoliberale Revolution, kein sozialpolitischer Kälteeinbruch. Im Gegenteil: der von CDU, CSU und FDP ausgehandelte Koalitionsvertrag will "Wohlstand für alle", eine "Bildungsrepublik Deutschland" und "sozialen Fortschritt durch Zusammenhalt und Solidarität". Entsprechend werden Wohlfühlgeschenke an alle verteilt. Steuerentlastungen, höhere Schonvermögen für Hartz-IV-Empfänger, mehr Geld für Kinder und Familien, mehr Geld für Bildung und Forschung. Auch an die (männlichen) Rentner wird gedacht. Wer ein Leben lang Vollzeit gearbeitet hat, soll "ein Alterseinkommen oberhalb der Grundsicherung erhalten, das bedarfsabhängig und steuerfinanziert ist." Sogar das Gastronomiegewerbe darf sich freuen. Ihm wird gewährt, was Handwerk und Bauwirtschaft schon lange vergeblich fordern. Ab Januar 2010 gilt für Übernachtungen in Hotels, Essen und Trinken in Restaurants der ermäßigte Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent. Anstatt die ermäßigten Mehrwertsteuersätze radikal ersatzlos zu streichen und sozialpolitische Ziele mit direkter Hilfe an die Schwächeren der Gesellschaft effizient und effektiv zu erfüllen, wird hier ein neues Privileg geschaffen. Denn es bleibt abzuwarten, ob die Abgabensenkung im Gastronomiegewerbe wohl zu günstigeren Preisen oder doch eher zu höheren Margen führen wird.

In Zeiten rekordhoher Staatsverschuldung sollen die Löcher in den öffentlichen Kassen nicht durch radikale Sparprogramme oder Steuererhöhungen, sondern durch steuerliche Entlastungen gestopft werden. Was auf den ersten Blick wie eine Kamikaze-Strategie erscheint, ist bei näherem Hinsehen ein risikoreicher, aber alternativloser Seiltanz über dem tiefsten Abgrund der staatlichen Haushalte in der Geschichte der Bundesrepublik. Steuersenkungen am Ende der schwersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit, deren Folgen noch lange nicht ausgestanden sind, sind ein unverzichtbarer Anfang, um überhaupt eine Chance zu haben, langfristig aus den Staatsschulden herauswachsen zu können. Ohne nachhaltiges Wachstum, das mit tiefer Steuerbelastung eher als mit hoher wahrscheinlich ist, gibt es keine nachhaltige Sanierung der öffentlichen Haushalte. Dabei darf man sich keine Illusionen machen. Es wird mehr als eine Legislatur dauern, bis eine Wachstumsstrategie zu Überschüssen in den Staatskassen führen wird. Als Ronald Reagan Anfang der 1980er-Jahre einer ähnlichen Vorwärtsstrategie folgte, war es erst Bill Clinton Ende der 1990er-Jahre, der gesunde Staatsfinanzen vorweisen konnte.

Die schwarz-gelbe Koalition bedient zuallererst das Soziale. Das Liberale wird nur am Rande verfolgt. Unaufgeregte Nüchternheit dominiert den Regierungsvertrag. Absage an den Kündigungsschutz: Fehlanzeige. Verzicht auf Mindestlöhne: nicht wirklich. Wenn Tariflöhne für allgemeinverbindlich erklärt werden können, wirken sie wie ein Mindestlohn. Bei soviel Pragmatismus fällt es der Opposition schwer, den Koalitionsvertrag in Stücke zu reißen. So wirken denn die Reaktionen von Rot-Rot-Grün auch recht hilflos wie ritualisierte Phrasendrescherei. Denn was lässt sich kritisch gegen "Wohlstand für alle" und mehr Geld für Kinder und Bildung sagen? Was spricht gegen "Mut zur Zukunft - für unser Land"? Was dagegen "Deutschland in Bildung, Wissenschaft und Forschung an die Weltspitze zu führen, um kommenden Generationen ein Leben in Wohlstand, Gerechtigkeit und Sicherheit zu ermöglichen"? Schon am Wahlabend hatte Merkel klargemacht, dass es ihr nicht um ordnungspolitische Grundsätze oder gar Ideologie gehen wird. Sie will die "Kanzlerin aller Deutschen" sein. Das ist der Geist, der den Koalitionsvertrag prägt.

Der Koalitionsvertrag ist kein großer Wurf, will er nicht sein, soll er auch nicht sein. Gerade in der sachlichen Gelassenheit liegt die Stärke der Merkel'schen Politik der kleinen, machbaren Schritte auf dem Weg der Mitte. Es finden sich eine Reihe zarter Ansätze, das Steuersystem zu vereinfachen, das Sozialsystem von den Löhnen auf die Steuerfinanzierung zu verlagern, der Bildung Priorität zu geben, die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund nicht als Thema der inneren Sicherheit, sondern des sozialen Fortschritts zu verstehen. Das alles wird Deutschland nicht in die Moderne katapultieren. Wieso aber auch? Die zunehmende Heterogenität und Individualisierung der Gesellschaft kann zwangsläufig nicht zu einem homogenen, runden Regierungsprogramm aus einem Guss führen. Aber ein Koalitionsvertrag bei dem "Wachstum. Bildung. Zusammenhalt" das Ziel und pragmatische Machbarkeit der Weg sind, könnte genug sein, um vier Jahre erfolgreich zu regieren.

Thomas Straubhaar ist Direktor des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI).