In Aschersleben gingen 2005 nur 58 Prozent zur Wahl. Über eine zerrissene Stadt, in der Harz und Hartz IV die Menschen prägen.

Sachsen-Anhalt. Wenn er lacht, kann man seine Zähne in der oberen Reihe an einer Hand abzählen. Sascha steht mit seinen Freunden Danny und Johannes auf dem Bahnhof von Aschersleben. Sie lassen einen Zug nach dem anderen abfahren. Sascha lacht viel, obwohl sein schmuddeliges Äußeres samt Bierflasche in der Hand davon erzählt, dass er bisher nicht viel zu lachen gehabt hat. In seinem kurzen Leben. Sascha ist 23.

Sascha sagt, dass er am Sonntag "natürlich nicht" zur Wahl gehen wird. Dadurch würde sich ja eh nichts ändern. Egal, wen er wählen würde. Keine Ausbildungsplätze, keine Jobs, keine Zukunft. Und überhaupt: "Keinen Bock." Wieder fährt ein Zug ab. Johannes (23) meint, dass er auch nicht wählen wird. Keiner seiner Freunde würde am Sonntag zur Wahl gehen. "Das interessiert hier niemanden." Nur Danny, der einen Ausbildungsplatz zum Elektroniker sucht, wird wohl zur Wahlurne gehen. Auch wenn er die Programme der Parteien "ziemlich unübersichtlich" findet. Der 22-Jährige glaubt, dass die kleinen Parteien diesmal mehr Stimmen bekommen werden als vor vier Jahren.



Johannes und Sascha sind in diesen Tagen ein gefundenes Fressen. Und so etwas wie der lebende Beweis für die Statistiker und Wahlforscher, die Sachsen-Anhalt als Zentrum der deutschen Politikverdrossenheit ausgemacht haben. Als Region, auf die man auch am Sonntagabend trefflich mit dem Finger zeigen kann, wenn es wieder einmal darum gehen wird, das wachsende Phänomen der Nichtwähler in diesem Land zu erklären. Das hat in dieser Region, wo Harz und Hartz IV aufeinanderprallen, schließlich Tradition. Bei der Teilgemeindewahl im April 2007 gab es in diesem Landstrich mit 36,5 Prozent die niedrigste Wahlbeteiligung der deutschen Nachkriegsgeschichte. In sieben kleinen Orten der Magdeburger Börde und der Altmark haben sich erst gar keine Bewerber gefunden. Und während bei der Bundestagswahl 2005 die Wahlbeteiligung im Bundesdurchschnitt bei 77,7 Prozent lag, bildete der Wahlkreis Börde, den es nach einer Wahlkreisreform heute nicht mehr gibt, mit 68 Prozent das Schlusslicht. Und weil sich innerhalb dieses Kreises in Aschersleben damals sogar nur 58,5 Prozent zum Urnengang aufraffen konnten, wurde der Ort flugs zur "Stadt der Nichtwähler" erklärt.


Was ist schiefgelaufen in dem Herzland deutscher Geschichte, in dem Luther seine Reformation (Wittenberg), Goethe so manche Harzreise (Aschersleben) und Bismarck seine Karriere (Schönhausen in der Altmark) begann? Händel musizierte in Halle, Kurt Weill in Dessau, Friedrich Ludwig Jahn turnte in Freyburg an der Unstrut. Heute hat anscheinend eine größer werdende Ansammlung von Verweigerern, die ihre Haltung aus Protest, Desinteresse oder Gedankenlosigkeit speist, die Oberhand gewonnen.


Wie zum Beweis des Gegenteils herrscht im Rathaus reges Treiben. Nicole Huth (33) und Janina Böttcher (26) sitzen gleich rechts am Empfangstresen, vor ihnen stapeln sich rote und blaue Wahlunterlagen. Im Minutentakt kommen fast ausschließlich ältere Bürger herein, lassen sich die Schriftstücke aushändigen und nutzen die Möglichkeit, die ihnen das Briefwahlrecht bietet: Sie verschwinden ein paar Stufen höher in den beiden provisorischen Kabinen, machen ihre Kreuzchen und stecken den Umschlag anschließend in eine Wahlurne. 2014 Wahlberechtigte haben auf diese Weise ihre Stimmen abgegeben. "2500 werden es bis zum Sonntag sein", schätzt Nicole Huth und findet, dass "hier viel mehr los ist als bei der Kommunalwahl in diesem Jahr".


Dass das nicht besonders verwunderlich ist, versucht Birgit Engel zu erklären. Die stellvertretende Wahlleiterin sitzt im 5. Stock des Rathauses, der einen großartigen Blick bietet über die historische Altstadt, die mittelalterliche Stadtbefestigung und die noch erhaltenen 15 von ehemals 51 Wachtürmen in der ältesten Stadt Sachsen-Anhalts, erstmals erwähnt im Jahre 753. Birgit Engel ist die Frau der Zahlen, die auf Knopfdruck belegen kann, dass bei der Kommunalwahl von 25 553 Wahlberechtigten nur 37,7 Prozent mitgemacht haben. Und dass bei der letzten Bundestagswahl immerhin 3035 Ascherslebener per Briefwahl abgestimmt haben. Und deswegen hütet sie sich auch davor, irgendwelche Prognosen für den Sonntag abzugeben. Das ist im Übrigen auch gar nicht ihr Job. Warum, um Himmels willen, soll ausgerechnet sie eine Erklärung dafür haben, dass das Wählen augenscheinlich nicht zu den Lieblingsbeschäftigungen der rund 30 000 Menschen im Ort zählt? Es reicht doch, dass sie es belegen kann.


Warum das in dieser Region so ein Kreuz mit dem Kreuzchen ist, könnte Andreas Michelmann (49) beantworten. Aber zum einen ist der Oberbürgermeister, der die Stadt seit 1994 regiert und zuletzt mit 74 Prozent der Stimmen wiedergewählt wurde, heute den ganzen Tag außer Haus. Und zum anderen mag sich der Chef der Wählerinitiative "Die Aschersleber Bürger" (WIDAB), die bei den letzten Wahlen mit 34,4 Prozent stärkste Partei vor der CDU (28,2 Prozent) wurde, mittlerweile auch gar nicht mehr öffentlich zu diesem Thema äußern. Seit er nämlich bei Maybrit Illner im ZDF zu Gast war und seine Sätze regelmäßig von Trailern unterbrochen wurden, in denen Einwohner in der Fußgängerzone von Aschersleben wieder nur erklärten, warum es überhaupt nichts bringe, zur Wahl zu gehen.


Stattdessen redet Anke Lehmann. Dafür wird sie schließlich auch bezahlt. Die 31-jährige Pressesprecherin mit den langen blonden Haaren praktiziert sehr eindrucksvoll die Vorwärtsverteidigung. Das mit den 58,5 Prozent beim letzten Mal sei auch einfach ein bisschen Pech gewesen und hinge natürlich mit der damaligen Arbeitslosenquote von 23 Prozent zusammen. Diese liege aber heute bei 17 Prozent und nun geht der Blick nach vorne. Aschersleben hat eine Menge vor. Die Landesgartenschau und die Internationale Bauausstellung (IBA) "Stadtumbau" im nächsten Jahr. Ein riesiges Bildungszentrum für 16,5 Millionen Euro mit eigener Kreativwerkstatt an der Stelle, an der momentan noch weithin sichtbar eine große Industriebrache wie ein aus der Zeit gefallenes DDR-Dokument vor sich hin bröckelt. Die weitere Sanierung der historischen Gebäude im Zentrum, ein Tunnel am Bahnhof und neue Kreisverkehre. Zoo- und Lichterfest, Herbstblues- und Bundes-Kabarettfestival im Kunstquartier "Grauer Hof", Planetarium und Kriminalpanoptikum. Anke Lehmann erzählt und erzählt und sagt auch, dass seit der Wende rund 7000 vor allem junge Menschen die Stadt verlassen haben. "Wir schrumpfen uns auf den historischen Stadtkern zurück", sagt sie und verteilt am Ende noch ordentlich Prospekte über die lebenswerte Kleinstadt in dem Bindestrich-Bundesland.


Christa Traut passt nicht in solche bunten Broschüren. Die 72-Jährige taugt nicht zu Reklamezwecken, weil sie verbittert ist, dass "hier nicht viel ist und die Jungen regelrecht weggejagt werden". Wir treffen sie mit ihrer Tochter Petra im Norden der Stadt. Dort, wo die "Volkssolidarität Aschersleben" zur Tagesfahrt zur "Bunten Kürbiswelt in Klaistow" einlädt, inklusive Führung durch die Kürbisausstellung. Wo zwischen sanierten Plattenbauten immer noch große, vierstöckige verfallene Mietshäuser laut Aushang in den verschmutzten Fenstern für 3000 Euro ersteigert werden können. Und das seit dem 18.12.2006. Ein Käufer scheint sich bisher nicht gefunden zu haben. Was nicht weiter verwundert, da es bei einer schwindenden Bevölkerung keine Nachfrage nach Wohnraum gibt. 2000 bis 3000 leer stehende Wohnungen gebe es in Aschersleben, hatte Anke Lehmann erzählt. Weshalb die Stadt so manchen Plattenbau lieber dem Erdboden gleichmacht, anstatt für viel Geld flächendeckend bunte Balkone anzubringen. "Die fehlende Arbeit für junge Leute macht alles kaputt", sagt Christa Traut. Sie meint die traurige Perspektivlosigkeit, das langsame Abrutschen in die Kriminalität. Erzählt freimütig, dass ihr Sohn in Wolfenbüttel im Gefängnis sitzt. Was soll's? Sie hat früher nicht gewählt, "da war ich auch 'ne Kriminelle". Und sie wählt heute auch nicht.


Matthias Büdke kann es gut verstehen, dass Menschen sagen, was sie in der Politik erkennen, ermutige sie nicht gerade dazu, zur Wahl zu gehen. Der evangelische Pfarrer aber erinnert sich eben auch noch sehr genau an den 24. Oktober vor 20 Jahren. "Damals kamen 3000 Menschen in die Stephani-Kirche zum Friedensgebet." Auch die Menschen in Aschersleben trugen ihren Teil zur friedlichen Revolution in der DDR bei. "Unser Ziel waren freie Wahlen", sagt der 57-Jährige. Wie könne man jetzt freiwillig auf das Recht verzichten, für das man damals Wochen und Monate gekämpft und so viel riskiert habe? Als man endlich den Mut aufbrachte, "die Dinge beim Namen zu nennen". Das, was jetzt wieder "hinter vorgehaltener Hand passiert". Eine erneute Wende sozusagen, auch wenn der Gottesmann sagt, man müsse doch bitte schön erst einmal abwarten, wie hoch die Wahlbeteiligung am Sonntag wirklich sein wird.


Jörg Holland wird dann auch mal wieder zur Wahl gehen. Früher hat er sich nicht allzu viel daraus gemacht. Nach der Wende hatte sich der 47-Jährige als Heizungsinstallateur selbstständig gemacht, dann blieb er auf 15 000 Euro Außenständen sitzen. Leute, "die heute mit einem dicken Auto durch die Stadt fahren, haben ihre Rechnung nicht bezahlt". Er meldete Insolvenz an, hat heute eine noch bis zum Februar befristete ABM-Stelle als Führer in der 500 Jahre alten St.-Stephani-Kirche. Er versteht nicht, wie Politiker Steuererleichterungen versprechen können und den Banken gleichzeitig Milliarden hinterherschmeißen.


Jörg Holland weiß nicht, wie es mit ihm im nächsten Jahr weitergehen wird. Sein Sohn hat in Koblenz Arbeit gefunden. "Wer kann, haut ab." Aber er will bleiben. "Wir können doch nicht alle weggehen - und der Letzte macht dann das Licht aus." Außerdem ist er Mitglied im Ascherslebener Carnevals Club. Und er kann doch die anderen Narren nicht einfach im Stich lassen.