Freche Anti-Aids-Kampagnen mit “jungem Gemüse“ und zerwühlten Betten haben schon viel erreicht. Doch über das Risiko gibt es immer noch Illusionen.

Handtaschencheck vor dem Partywochenende: Lippenstift, Geldbörse, Taschentuch, Kreditkarte, Handy, Aspirin ...

... und die kleinen flachen Lebensretter aus Gummi. Das jedenfalls wäre der Wunschtraum aller Eltern, Gesundheitsministerinnen und Aids-Berater: Junge Leute bauen vor. So wie es Lucy von den "No Angels" in einem Werbespot empfiehlt: "Ich habe Aids nicht vergessen. Und du? Schütz dich."

Aber wie viele tun es wirklich? Mit dem Fall von Lucys Kollegin Nadja Benaissa wird plötzlich ein Thema zum Tagesgespräch, das sonst nur im Sexualkundeunterricht oder am Weltaidstag vorkommt: Wie kann es eigentlich passieren, dass man sich mit HIV infiziert? Geht das alle etwas an oder nur die altbekannten Risikogruppen?

Auf der Website "Nadja.tv" - deren Server seit vorgestern wegen Überlastung immer wieder zusammenbrach - diskutieren die No-Angels-Fans heftig und kontrovers. Etliche verteidigen Nadja Benaissa vehement: "Woher weißt Du, wann sie auf einen Gummi verzichtet hat und wann nicht? Hast Du danebengelegen?" Andere verurteilen sie schon: "Ist echt die Härte, was sich Nadja da geleistet hat!!!!" oder "Was tut ihr in dem Moment, wo sie gesteht?? Losheulen?"

Alle von ihnen scheinen zu wissen, wie "man" das HIV-Risiko am besten ausschaltet. Aber kaum jemand bezieht das Risiko auf sich selbst. So was passiert nur anderen.

Wie groß die Unsicherheit in Wahrheit ist, entpuppt sich in Internet-Sprechstunden wie etwa der des Sexualberaters Bruno Wermuth. Im Schutz der Anonymität geht's unverblümt zur Sache. "Kann man sich mit dem HIV-Virus anstecken, wenn man Sperma schluckt?", fragt "Marlene" (24). "Michael" (18) war bei einer Prostituierten und hat ihre Schamlippen geleckt. War das nun gefährlich? Es gibt so viele Wissenslücken, wie es sexuelle Vorlieben gibt. Manche glauben auch immer noch, dass Infizierte verpflichtete seien, sich einem Sex-Partner als HIV-Träger zu outen (sind sie nicht).

Auf der anderen Seite sind junge Leute in Deutschland so aufgeklärt und kondomfreudig wie nie zuvor. 87 Prozent der 16- bis 44-jährigen Singles mit wechselnden Sexualpartnern benutzen heute immer oder häufig ein Kondom, vor zehn Jahren waren es noch 77 Prozent. Mehr als 70 Prozent in diesen Altersgruppen empfinden ein Kondom nicht mehr als "Stimmungskiller" (vor zehn Jahren: 60 Prozent), ergaben jüngste Umfragen der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Mittlerweile werden in Deutschland 209 Millionen Kondome pro Jahr verkauft. "Das spricht für ein hohes Schutzbewusstsein in der Bevölkerung", sagt BZgA-Sprecherin Dr. Marita Völker-Albert.

Etwa 65 000 HIV-Infizierte leben in Deutschland. Obwohl die Zahl der Neuinfektionen weltweit ansteigt, ist die Zunahme in Deutschland (und Andorra) am geringsten: Nur 33 Einwohner pro eine Million - in der Schweiz etwa sind es 104, in Großbritannien 149. Es war also richtig, dass sich BZgA, Aids-Hilfe und Beratungsstellen seit Jahren auf die Kondom-Nutzung als sichersten Schutz vor HIV konzentriert haben.

Aber wenn man die Kurve der Neuinfektionen hierzulande genau betrachtet, gibt es keinerlei Grund zur Entwarnung: Sie steigt nämlich seit 2002 wieder an, wenn auch mit einer Abflachung 2008. "Langfristig geht der Trend für uns nach oben", sagt Susanne Glasmacher vom Robert-Koch-Institut in Berlin, das kontinuierlich die Zahlen erhebt.

Es gibt also auch eine neue Sorglosigkeit. Ein Grund dafür ist paradoxerweise, dass Aids seinen Schrecken verloren hat. Immer mehr Menschen leben mit HIV-Infizierung und Aids - aber gleichzeitig wird die Krankheit immer unsichtbarer.

Die erschütternden Bilder von abgemagerten, sterbenden Aidspatienten, die in den 80er-Jahren um die Welt gingen, sind heute fast ganz aus den Medien verschwunden. Seit 1996 wurden Medikamente sehr effektiv weiterentwickelt. Heute können Infizierte und Aidskranke länger und besser leben als je zuvor. Aber viele von ihnen outen sich nicht oder nur im engsten Angehörigen- und Freundeskreis.

Deshalb erscheint die Gefahr einer Infektion vielen abstrakt; sie scheint sich auf kleine Risikogruppen zu begrenzen: diejenigen, die harten homosexuellen Sex haben, und diejenigen, die bereits infiziert sind. Das täuscht.

Wenn es zwischen zwei Leuten funkt und die klassische Frage "Zu dir oder zu mir?" geklärt ist, dann ist der Kopf mit anderen Gedanken voll. Sie sind in einem Stadium von Euphorie und Verwirrung. Der Himmel hängt voller Sterne. Oder voller Geigen. Aber nicht voller Kondome.

"Gerade das 'erste Mal' ist mit großer Nervosität und großen Erwartungen befrachtet, da scheint so ein technischer Aspekt wie die Kondomfrage eher zu stören", sagt Dr. Wolfgang Müller, Leiter des Aids-Referats der BZgA. Auch der Umgang mit einem Kondom muss gelernt werden: "Man sollte es ein paar Mal an einer Banane oder einem Besenstiel ausprobieren, damit es klappt." Weitere Hemmschwellen: Jugendliche kaufen oft zu große Kondome, die rutschen. "Taillierte Kondome sind praktischer und sicherer", sagt Müller.

Die meisten Menschen wünschen sich eine romantische, liebevolle, zugewandte Sexualität. Dazu gehört auch die Vorstellung von Verschmelzung mit dem Partner, von Nichtabgrenzung. "Ein Kondom verhindert das, das lässt sich nicht wegreden", sagt Müller. "Aber es gibt trotzdem gute Gründe, es zu verwenden. Gerade wenn ich mir nicht sicher bin - über den anderen oder auch über mich selbst."

"Es gibt nur eine Sache, die noch schöner ist, als jemanden verführen: selbst verführt zu werden", schwärmt Oswalt Kolle. Wie funktioniert denn Verführung zum Kondom? Frustriere ich den anderen, wenn ich ein Kondom vorschlage? Wie finde ich die richtigen Worte? Was denkt er oder sie dann über mich?

Die TV-Spots der Aids-Aufklärung zeigen ein Paar, das eine elegante Lösung findet: Kondom aus der Tasche ziehen und zeigen. Keiner muss Volksreden halten. So einfach kann das sein.

Für Verliebte hängt der Himmel voller Sterne. Oder voller Geigen. Aber nicht voller Kondome.