Die Tochter des Altbundespräsidenten Richard von Weizsäcker bricht eine Lanze für die “Politik von unten“. Sie soll sichtbarer werden.

Berlin. Kaum betritt Horst Schlämmer die Wahlkampfarena, steht das Land kopf. Ist das nun Satire? Und wenn ja, von was? Zeigt Schlämmer "das Elend unserer Politiker" (welt.de), bringt er"den Frust einer Gesellschaft zum Ausdruck" (Gregor Gysi)? Schlämmer wird gehandelt als lebender Beweis, dass die Deutschen Politik längst nicht mehr ernst nehmen.

Und jetzt kommt wie zur Bestätigung auch noch Beatrice von Weizsäcker, Tochter des früheren Bundespräsidenten, mit ihrem Buch "Warum ich mich nicht für Politik interessiere ...". Wie, was? Bei der Familie ist die unpolitisch?

Ist sie nicht. Aber unzufrieden. "Rollen wir nicht seit Jahren mit den Augen, wenn wir das Wort'Politik' auch nur hören?", schreibt sie. Das möchte sie ändern. Die Idee zum Buch entstand in einem langen abendlichen Gespräch mit ihrem Bruder Fritz, in einer Stimmung zwischen Spaß und Ernst.

Beatrice von Weizsäcker, Jahrgang 1958, ist promovierte Juristin und parteilos. Da könnte sie in einem Unternehmen arbeiten und viel Geld verdienen. Stattdessen arbeitete sie als Journalistin beim "Tagesspiegel", dann unter anderem für die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" zur Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter, heute gehört sie dem Vorstand der Theodor-Heuss-Stiftung und dem Präsidium des 2. Ökumenischen Kirchentags an. Politik ist für sie Engagement, geradezu Leidenschaft. Und genau das vermisse sie in der "großen" Politik, sagt sie im Gespräch.

Den Parteien schreibt sie ins Stammbuch, dass sie laut Verfassung an der politischen Meinungsbildung nur "mitwirken", also eine dienende Rolle spielen sollen. Und was ist daraus geworden? "Aus der Mitwirkung ist die Vorherrschaft der Parteien geworden, aus den (gewählten) Abgeordneten wurden Vertreter und Funktionäre ihrer Parteien, aus Interessenvertretungen wurden Vereinnahmungsmaschinen." Denen gehe es nicht um das Volk, sondern "um ihre Vormundschaft über uns".

Also eine Parteiendemokratie. Und deren Attraktivität sinkt, sagt von Weizsäcker. "Der Bundestag wird zwar vom Volk gewählt, aber sobald wir unser Kreuz bei der Wahl gemacht haben, haben wir die Stimme an die Parteien abgegeben. Wir können keinen Ministerpräsidenten und auch nicht die Bundeskanzlerin wählen, sondern nur ihre Partei. Nicht mal den Bundespräsidenten kann das Volk direkt wählen."

Das alles, sagt sie, "wirkt ermüdend und etwas frustrierend." Die Folgen sind fatal: SPD, CDU, CSU und Linke sind dramatisch überaltert. Allein von 1997 bis 2007 ging die Mitgliederzahl bei der CDU um rund 95 100, bei der CSU um 12 100 und bei der SPD um 236 300 zurück. Insgesamt sind heute weniger als zwei Millionen Deutsche in Parteien organisiert, und nur zehn bis 15 Prozent von ihnen sind aktiv. Die Wahlbeteiligung ist seit 1993 bei den unter 30-Jährigen geradezu abgestürzt.

Jetzt der etwas andere Blick: "Unendlich viele Ideen und Initiativen im Land sind politisch - nur dass man sie nicht sehen kann oder dass kaum jemand darüber spricht", sagt Beatrice von Weizsäcker. Und das verzerrt das Bild. "Es ist falsch, von einer sinkenden Wahlbeteiligung auf ein generelles Desinteresse an Politik zu schließen. Wenn man den Leuten das erzählt, verkauft man sie für dumm."

Sie macht eine andere Rechnung auf: "Wann fängt Engagement denn an, 'politisch' zu werden? Doch nicht erst in einer Partei oder in einem Amt oder wenn es 1000 Klicks im Internet bekommt. Man kann auch kritische Fotos in einer Schule aufhängen, mit anderen über einen Film reden, ein Internetforum eröffnen, Unterschriften oder Spenden sammeln." Sie stellt eine Fülle von Beispielen vor.

Etwa Wunsiedel: Jahr für Jahr im August wurde das 10 000-Einwohner-Städtchen im Fichtelgebirge von bis zu 3500 Neonazis heimgesucht, die am Grab des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß aufmarschierten. Als einstweilige Verfügungen nicht halfen, gründeten Bürger, Stadtrat und Kirchen 2004 die Initiative "Wunsiedel ist bunt, nicht braun" und bildeten sogar Sitzblockaden. Die Aktionen führten dazu, dass der Gesetzgeber das Versammlungsverbot in Paragraf 130 Absatz 4 des Strafgesetzbuchs verschärfte (Verherrlichung der Nazi-Gewaltherrschaft in einer Versammlung stört den öffentlichen Frieden). Jetzt muss das Bundesverfassungsgericht eine Grundsatzentscheidung treffen.

Oder: das Fußball-Fanprojekt in Dresden - "ich bin Fußballfan, deshalb hat mich das sehr beeindruckt", sagt Beatrice von Weizsäcker. Weil der FC Dynamo Dresden verschrien war wegen Gewalt nach Spielen, beschlossen Fans 2003, das Problem selbst in die Hand zu nehmen. Die Wirkung in der Jugendszene ist enorm.

Oder die 20-jährige Clara Anders, die während eines Freiwilligen sozialen Jahres beim Stadtjugendring in Potsdam eine sehr erfolgreiche Erstwählerkampagne entwickelte. Oder die Internet-Plattform "abgeordnetenwatch.de", die 2004 von Hamburgern entwickelt wurde. Jeder kann dort Parlamentarier in Bürgerschaft, Bundestag und Europaparlament individuell befragen. "80 bis 90 Prozent der Politiker stellen sich dieser Seite und reagieren auf die Fragen", sagt von Weizsäcker, "da kann auch nachgebohrt werden. Das ist das Gegenstück zu den frisierten Homepages vieler Politiker."

Was die Autorin zeigen will: Die Menschen werden aktiv, auch ohne dass der Staat oder eine Partei sagt: Hilfe, da müssen wir was tun. Nach einem gängigen Vorurteil werden die demonstrationsfreudigen Franzosen als viel politischer eingeschätzt. Aber die Deutschen sitzen nicht lieber räsonierend auf dem Sofa: "Bei uns gibt es unzählige Vereine, Bürgerinitiativen, Spendenparlamente, Internet- und Graswurzel-Gruppen, die sehr wirksame Arbeit machen. Man kann nicht sagen: Erst wenn ihr mit einem Transparent vor dem Kanzleramt steht, seid ihr politisch und werdet wahrgenommen."

Diese Bürgerdemokratie möchte sie sichtbar machen. Selten hat man ein so anschauliches, eingängiges und persönliches Buch über Politik gelesen. Es entschlämmert die Debatte. "Politik sind wir alle", sagt sie zum Abschied, "es ist die Gestaltung unseres eigenen Raums."

Beatrice von Weizsäcker: Warum ich mich nicht für Politik interessiere ... Lübbe, 14,99 Euro.