Experten kritisieren einseitige Behandlungen und warnen vor medizinischer Unterversorgung.

Hamburg. Die medizinische Versorgung von Kindern und Jugendlichen weist immer öfter gravierende Mängel auf. Zu diesem Schluss ist der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen gekommen. In seinem neuen Gutachten kritisiert das Gremium, dass Kinder und Jugendliche oft unnötig oder riskant viele Medikamente verschrieben bekommen. Viele Arzneimittel, die für Säuglinge, Kleinkinder, Schulkinder oder Jugendliche angewendet werden, sind nicht speziell für diese Altersgruppen untersucht oder zugelassen worden, heißt es im Gutachten. Die Experten kritisieren dazu einen "unbegründet breiten Einsatz" von Psychostimulanzien und Antibiotika bei Virusinfekten. Der Sprecher des Bundesverbandes der Kinder- und Jugendärzte, Ulrich Fegeler, wies diesen Vorwurf als "sehr pauschal" zurück. "In anderen Ländern werden Antibiotika für Kinder viel unkritischer und häufiger verschrieben", sagte Fegeler dem Abendblatt.

Auch bei Älteren äußern die Sachverständigen Sorge, dass zu viele Pillen verschrieben werden. Rund 35 Prozent der Männer und 40 Prozent der Frauen über 65 Jahren erhielten neun oder mehr verschiedene Wirkstoffe in Dauertherapie.

Zudem bemängeln die Experten die bisherigen Behandlungsformen von Kindern mit dem Aufmerksamkeits-Hyperaktivitäts-Syndrom ADHS.

Sachverständigenrats-Vorsitzender Eberhard Wille beanstandete, dass die wachsende Zahl der an ADHS erkrankten Kinder und Jugendlichen eine "allzu einseitige Arzneimitteltherapie" erhielten. Niedergelassene Ärzte würden als therapeutische Maßnahme ausschließlich medikamentöse Behandlungen wählen, obwohl breiter angelegte Hilfen wie Verhaltenstherapien empfohlen werden, so das Gutachten. Oftmals seien aber Therapieplätze nicht verfügbar oder mit langen Wartezeiten verbunden.

Derzeit wird ADHS am meisten mit der Psychostimulanz Methylphenidat behandelt. Es erhöht den Dopaminspiegel und verringert Unruhe, Impulsivität und depressive Verstimmung.

Häufig seien Kinder- und Allgemeinärzte auch nicht ausreichend für die Diagnostik von ADHS ausgebildet, so die Gutachter. Manche Ärzte würden weder die Kinder selbst noch deren Lehrer als Informationsquelle und Kooperationspartner einbinden.

Das Expertengremium sprach sich angesichts drohender Verschlechterungen bei der Versorgung der Patienten für eine weitreichende Neuordnung des Gesundheitswesens aus. "Die Gefahr besteht, dass die flächendeckende primärärztliche Versorgung auf Dauer nicht mehr gewährleistet werden kann", warnte der Ratsvorsitzende Eberhard Wille. In einigen Regionen gebe es kaum noch Hausärzte. Gesundheitsministerin Ulla Schmidt betonte: "Wir müssen Lösungen finden, damit auch die steigende Zahl älterer Menschen medizinisch gut versorgt werden kann."