Wahr oder nicht? Wie scheinbar alles “von Brüssel“ gelenkt wird und das doch nicht stimmt. Prof. Cord Jakobeit klärt die populärsten Irrtümer bei abendblatt.de auf.

Hamburg/Brüssel. Nicht nur Politiker brauchen Sündenböcke, auch Wähler suchen sie. Die Mitarbeiter der Europäischen Union eignen sich bestens, um für scheinbare Fehlentwicklungen und Behördenwahnsinn verantwortlich gemacht zu werden – schließlich ist Brüssel zu weit weg, um sich gegen alle kursierenden Irrtümer und Mythen zu wehren. Doch nicht selten sind es in Wahrheit die Nationalstaaten selbst, die absurd anmutende Regelungen fordern. Professor Cord Jakobeit, EU-Experte an der Universität Hamburg, räumt auf abendblatt.de mit den gröbsten Missverständnissen auf. Philip Volkmann-Schluck hat die Irrtümer protokolliert.

Brüssel ist eine Monsterbürokratie

Jede deutsche Großstadt beschäftigt mehr Personal als die EU. Bei den verschiedenen Organen der EU arbeiten rund 30 000 Beamte. Die Zahl der Beschäftigten am Frankfurter Flughafen ist sogar mehr als doppelt so hoch. Gemessen am Jahresetat von rund 120 Milliarden Euro und bezogen auf die fast 500 Millionen EU-Bürgerinnen und Bürger, für die die Behörden in Brüssel zuständig sind, kann man die EU-Bürokratie sogar als sehr effizient einstufen. Zudem überprüft der Europäische Rechnungshof peinlich genau, wozu öffentliche Mittel verwendet werden.

Die EU regiert überall rein und schreibt sogar vor, wie krumm Gurken wachsen dürfen

Die legendäre Verordnung über den zulässigen Krümmungsgrad von Gurken läuft in diesem Sommer aus. Die europäische Gurke darf also wieder wachsen, wie sie will. Meist wird aber der Hintergrund vergessen, wenn es um angebliche Beispiele für die EU-Regelungswut geht. Im konkreten Fall wollte der Handel mit Standardkisten operieren, bei denen auf den ersten Blick zu erkennen ist, wie viele möglichst grade Gurken in der Kiste stecken. So fällt es Unternehmen leichter, Waren kostengünstig für einen Binnenmarkt von 27 Mitgliedstaaten herzustellen. Deutschland exportiert übrigens über 60 Prozent seiner Produkte dorthin und hat von vielen einheitlichen Regeln immer wieder profitiert.

Und die Zwangsumstellung der Universitäten auf das Bachelor/Master-System?

Nicht selten sind scheinbare Anordnungen aus Brüssel in Wahrheit vorauseilender Gehorsam der Mitgliedstaaten. Die Umstellung der Hochschulsystems und –abschlüsse auf Bachelor und Master hätten die deutschen Bundesländer gar nicht mitmachen müssen. Denn sie haben weitgehend freie Hand in kulturellen und bildungspolitischen Fragen, umso mehr seit der jüngsten Föderalismusreform. Die Europäischen Verträge, denen alle Mitgliedstaaten zugestimmt haben, sehen vor: Die EU handelt, wenn eine Aufgabe nicht besser auf nationaler oder kommunaler Ebene gelöst werden kann. So liegt in der Zoll-, Handels-, Wettbewerbs-, Währungs- und Agrarpolitik die primäre Zuständigkeit bei der EU. Beim Verbraucherschutz und in der Umweltpolitik sind EU und Mitgliedstaaten gemeinsam zuständig. Andere Politikfelder wie die Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik, Inneres oder Außenpolitik fallen weitgehend in die nationale Zuständigkeit. Dass es zum Beispiel keine EU-weiten Studiengebühren gibt, verdeutlicht die regionalen Freiheiten.

Das Vereinte Europa ist undemokratisch

Richtig ist, dass die demokratische Legitimität der EU-Kommission nicht vergleichbar ist mit der der Bundesregierung. Sie leitet sich aber von der demokratischen Legitimität der Regierungen der Mitgliedstaaten und des Europäischen Parlaments ab, die ja beide durch Wahlen bestimmt werden. Der Präsident der EU-Kommission wird von den Regierungen der EU-Mitgliedstaaten ernannt und vom Europäischen Parlament bestätigt. Die weiteren Mitglieder der Kommission werden von den nationalen Regierungen in Absprache mit dem künftigen Präsidenten ernannt und müssen ebenfalls vom Europäischen Parlament bestätigt werden. Übrigens wird der Reformvertrag von Lissabon die Mitbestimmung und Initiative der Bürger weiter stärken. Mit dem europäischen Volksbegehren, das eine Million Unterschriften aus einer erheblichen Zahl von Mitgliedsländern voraussetzt, kann die EU-Kommission aufgefordert werden, einen Gesetzesvorschlag vorzulegen.

EU-Abgeordnete zocken besonders dreist Spesen ab

Schwarze Schafe gibt es leider überall, auch in den anderen parlamentarischen Gremien in den EU-Staaten. Das Fehlverhalten Einzelner sollte aber nicht die Sorgfalt, Genauigkeit und das hohe Berufsethos fast aller Parlamentarier in Frage stellen. Es kommt vor, dass Politiker sich am Tag nach einer Debatte in Strassburg oder Brüssel noch in eine Anwesenheitsliste eintragen und dann doch früher in den eigenen Wahlkreis zurückfahren, ohne dass die vorgesehene Vergütung für die Sitzung zurückgezahlt wird. Das passiert allerdings auch andernorts. Derzeit erschüttert ein Spesenskandal England, unter anderem soll eine Politikerin Steuermittel für eine Zweitwohnung eingestrichen haben, die es niemals gab. Tricksereien und Betrug mit Erstattungen, Spesen und Vergütungen sind daher nicht primär ein Problem der EU.

Das EU-Parlament ist ja sowieso machtlos

In Wahrheit hat es kontinuierlich an Einfluss gewonnen. Seine Rechte und Befugnisse wurden im Zuge der Veränderungen der Verträge der letzten Jahrzehnte ständig ausgeweitet. Es ist zudem das einzig direkt gewählte und somit unmittelbar legitimierte Organ der EU. Es kontrolliert die Kommission und den Haushalt der EU und ist an allen Gesetzgebungsvorhaben beteiligt. Gemessen an den Befugnissen des Bundestages ist die Bilanz zwar immer noch mager. Das heißt aber nicht, dass die Stimme des Europäischen Parlaments nicht gehört wird. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass in Brüssel politisch neutrale Organe im Konsens rein technische Entscheidungen treffen. Vielmehr wird auch in Brüssel um politische Richtungsentscheidungen gerungen.