Die Volkszählung vor 21 Jahren löste noch einen Aufschrei aus. Heute verraten die Deutschen vieles über sich selbst, ohne danach gefragt zu werden. Und manche zahlen später einen hohen Preis.

Hamburg. Bianca wohnt in Moers, ist blond und hat ein nettes Lächeln. Sie hört gern "Just Hold Me" von Maria Mena, und vielleicht lief der Song auch am 25. Oktober in der Diskothek "Pulp" in der Wanheimer Straße 231c in Duisburg, als sie dort in ihren 18. Geburtstag hineingefeiert hat. Mit dabei waren bestimmt einige ihrer 72 Freunde, vielleicht auch Patrick, Caro und Isi. Bianca hat das Gymnasium abgeschlossen und möchte später einmal mindestens 118 000 Euro im Jahr verdienen. Sie ist "vergeben", wünscht sich irgendwann Kinder, und ihr Sternzeichen ist Skorpion. Bianca bewegt sich fast täglich in einer Gemeinschaft, die mehr Einwohner hat als Deutschland. Sie gibt gern viel von sich preis, ihre Daten sind kein Geheimnis und für jeden zugänglich, der im Internet bei MySpace vorbeischaut.

Wie sich die Zeiten ändern. Als der Staat vor 21 Jahren die Daten seiner Bürger erfassen wollte, tobte ein heftiger Meinungsstreit im Lande. Die Pläne für eine Volkszählung lösten einen beispiellosen Volksaufstand aus. Wie groß sind Ihre Wohnräume? Heizen Sie mit Öl oder Gas? Wie weit ist Ihr Weg zum Arbeitsplatz? Nichts wollte das Gros der Deutschen damals von sich preisgeben. Gegner riefen zum Boykott auf und skandierten: "Meine Daten müsst ihr raten." Viele Menschen fühlten sich ausspioniert und priesen den britischen Autor George Orwell als Seher; der hatte schon für "1984" die Horrorvision eines totalen Überwachungsstaates namens Ozeanien, in dem die Bürger von "Big Brother" lückenlos erfasst werden, in Romanform beschrieben. Doch weder solche diktatorischen Szenarien noch Bürgerinitiativen, noch der Gang vor die Gerichte konnten die Zählung 1987 verhindern.

Heute läuft "Big Brother" im TV. Und die tägliche Überwachung sorgt für Quote. Darüber regen sich aber nur noch jene auf, denen es um niveauvolles Fernsehen geht. Der "gläserne Mensch" jedoch ist dermaßen zum Teil unserer Wirklichkeit geworden, dass sich der Protest dagegen auf die Leserbriefspalten beschränkt. Auf die Straße oder gar vor Gericht zieht niemand mehr. Und selbst wenn - wie in diesen Wochen in schöner Regelmäßigkeit - immer wieder Datenklau in großem Stil aufgedeckt wird, googelt die Masse nach einem kurzem empörten Aufschrei munter weiter.

Wer im Internet surft, auf dem Handy telefoniert, mit Kreditkarten bezahlt, an einem Preisausschreiben teilnimmt, im Supermarkt einkauft oder auch nur auf dem Bahnsteig auf einen Bekannten wartet, der wird erfasst. Wer sich bewegt, hinterlässt Spuren. Und selbst wer in der Freizeit seinem Hobby nachgeht, darf sich ziemlich sicher sein, dass er unter Beobachtung steht.

Als im Sommer 2006 die Fußballweltmeisterschaft in Deutschland stattfand, wurden sämtliche Eintrittskarten in Abstimmung mit dem Bundesinnenministerium mit einem Funkchip versehen. Der damalige Minister Otto Schily (SPD) begründete das mit "Sicherheitsmaßnahmen". Es ging um das Erstellen von Bewegungsmustern, und der Chip sollte die Trennung rivalisierender Fangruppen unterstützen. Im Nachhinein stellte Deutschlands oberster Datenschützer Peter Schaar jedoch fest, "dass die Personalisierung der WM-Tickets kaum mehr Sicherheit gebracht habe". Und er riet deshalb davon ab, so etwas auch bei anderen Sportveranstaltungen einzuführen.

Ob er damit den FC Bayern gemeint hat? Gleichzeitig mit dem schönen neuen Stadion führten die Münchner nämlich auch die ArenaCard ein, die im gesamten Rund den bargeldlosen Zahlungsverkehr ermöglicht. RFID ist das Stichwort. Diese sogenannte Radiofrequenz-Identifikation ist eine Funktechnik, die unter Datenschützern umstritten ist, weil sich mithilfe eines winzigen Chips Konsumbilder und in begrenztem Maße auch Bewegungsprofile erstellen lassen. Die Chipkarten-Anwendung, stellten die Münchner jedoch flugs klar, werde für keinerlei Marketinganalysen oder jegliche Auswertung von Käuferaktivitäten genutzt.

Eine honorige Ausnahme? Längst bekennen sich professionelle Schnüffler ganz offen zu ihrem Spionage-Gewerbe, das legal Leute auskundschaftet. Auf der Internetseite yasni.de kann man gezielt nach Personen suchen, bei der Schober Information Group hat man Zugriff auf die Daten von 50 Millionen Bundesbürgern. Es wird damit geworben, dass man im Adressen Online Shop Neukunden nach über 100 Merkmalen auswählen, die Daten sofort auf den PC überspielen und neue Kunden gewinnen kann: schriftlich, telefonisch oder per E-Mail. Schober ist nur einer von rund 1300 Datenhändlern in Deutschland. Das Wirtschaftsmagazin "Capital" hat errechnet, dass allein die vier größten Auskunfteien jährlich mehr als 140 Millionen Datensätze über Verbraucher an die Werbeindustrie liefern. Die sucht gezielt nach Alter, Geschlecht und Kaufkraft, nach Stadtteilen, Hochhausbewohnern oder Menschen, die besonders an Luxusgütern interessiert sind. Aber von wegen "fragen kostet nichts": Die Ausgaben für das darauf gestützte Direktmarketing beliefen sich in Deutschland im Jahr 2005 auf gut 45 Milliarden Euro. Die Schnüffel-Industrie lebt, weil das Geschäft nach dem Prinzip funktioniert: Je mehr ich von meinem Kunden weiß, desto gezielter kann ich ihn ansprechen. Da bleibt es dann eben auch nicht aus, dass der Weinhändler, bei dem man per Kundenkarte registriert ist, nach vier Monaten besorgt nachfragt, ob der letzte Tropfen vielleicht nicht gemundet hat, weil man seitdem ja nichts mehr gekauft habe.

Aber ist das wirklich so schlimm? Wer zwingt einen zur Nutzung einer Kundenkarte? Wer verbietet einem, den nervigen Gewinnspiel-Anrufer einfach wegzudrücken? Kein Gesetzgeber schreibt das Online-Banking vor. Und die Schutzgemeinschaft für allgemeine Kreditsicherung (Schufa), die von 65 Millionen Personen 433 Millionen Daten gesammelt hat, ist für viele auch ein wichtiges Instrument, um über die Bonität eines Kunden oder Mieters urteilen zu können.

Noch sinnvoller ist es, wenn der Staat, der rund 20 Prozent aller Daten sammelt (die Wirtschaft 80 Prozent), mithilfe von Kreditkartenunternehmen Lieferanten und Konsumenten von Kinderpornografie auf die Spur kommt, wenn er Steuerbetrüger aufspürt und den internationalen Terrorismus bekämpft. Wenn es um schwerste Straftaten geht, heiligt der gute Zweck die Mittel, und die Video-Überwachung gefährlicher Orte gilt vielen Bundesbürgern eben auch als Schutz.

Und selbst die umstrittene Google-Aktion, ganze Straßenzüge deutscher Städte zu fotografieren und ins Netz zu stellen, löst keine bundesweite Protestwelle mehr aus. Schon gar nicht bei MySpace-Nutzern wie Bianca, die sich bei Google Earth auch gern schon mal das Strand-Appartement ihres nächsten Urlaubsziels anschaut.