Die Grünen ziehen mit Claudia Roth und Cem Özdemir als neuem Führungsduo in die Bundestagswahl 2009. Erstmals in Deutschland gibt es mit Özdemir einen Parteichef türkischer Herkunft. Die Veranstaltung am Sonnabend wurde von Rechtsradikalen gestört.

Erfurt. Mit einer von jubelndem Beifall unterbrochenen Rede hat Cem Özdemir die Grünen für sich gewonnen: Der Parteitag wählte ihn mit 79,2 Prozent der Stimmen zu ihrem neuen Bundesvorsitzenden. Özdemir übernahm das Amt von Reinhard Bütikofer, der in die Europapolitik wechselt. Zuvor war die bisherige Amtsinhaberin Claudia Roth mit 82,7 Prozent wieder an die Doppelspitze gewählt worden. Der Oldenburger Lars Willen, der kurz vor der Veranstaltung noch seine schriftliche Bewerbung eingereicht hatte, aber nicht zu der Bundesdelegiertenkonferenz erschienen war, erhielt 1,16 Prozent der Stimmen.

Özdemir war bei seinem Auftritt in der Erfurter Messehalle seine Nervosität anzumerken. Erst langsam kam der 42-Jährige in Schwung, etwa als er an die Gefangenen in Guantanamo erinnerte und forderte: "Herr Steinmeier, übernehmen Sie! Sie haben da auch etwas wieder gutzumachen!" Dann schoss er sich auf die Mängel der "Koalition des Stillstands" ein, etwa den Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD): "Er steht fürs Auto, er steht für die Autolobby, nicht für den Klimaschutz." Es sei wichtig, dass wieder kompetente Leute über den Naturschutz zu entscheiden hätten grüne Leute. Als nächstes war die FDP dran, "von manchen auch als die Liberalen bezeichnet", was lautes Gelächter im Saal mit den über 700 Delegierten hervorrief. Die Partei sei in Wirtschaftsfragen wie der Wolf, der zu Rotkäppchen sage, er müsse es leider fressen, sonst würde es noch schlimmeres erleiden. Der Linkspartei warf Özdemir vor, alles andere als progressiv und im Einsatz für Menschenrechte zu sein: Stets würde die USA kritisiert. "Wenn es um Russland geht, wenn es um China geht, wenn es um Kuba geht, was ist dort mit Menschenrechten?" Spätestens in dem Moment hatte der bisherige Europaparlamentarier, dessen bundespolitische Karriere nach der privaten Nutzung von Bonusflugmeilen und der Annahme eines Kredits von einem Lobbyisten beendet schien, den Parteitag von sich überzeugt.

Auch seine Vorstellung einer grünen Gesellschaft kam an: "Eine Gesellschaft, die alle mitnimmt, egal, ob sie aus Anatolien kommen oder ob ihre Vorfahren schon im Teutoburger Wald gegen die Römer gekämpft haben."

Kenner der grünen Szene waren im Vorfeld überzeugt davon, dass das Ergebnis des Neubewerbers und Realos stark von der Zustimmung für seine Vorrednerin, der Fundi-Frau Claudia Roth, abhängen würde. Die hatte eine flammende Rede für die Grundwerte ihrer Partei gehalten. Sie wolle Chancengleichheit ermöglichen, unabhängig vom Nachnamen und Vermögen der Eltern. Elegant warb sie für den türkischstämmigen Özdemir: Wo die deutsche Leitkultur ins Spiel gebracht werde, warnte Roth, werde selbst sie "zur Reala": "Ich hoffe, dass wir auf diesem Parteitag noch einen besonderen personellen Beitrag in die Debatte hineinbringen." Zugleich attackierte sie die Bundesregierung: Man müsse etwas unternehmen gegen "Angela Merkel als neue Schutzmantelmadonna einer Sozialdemokratie mit Burn-out-Syndrom". Der Saal tobte. Nach der Wahl wurden die beiden Vorsitzenden von Grünen aus Gorleben und Asse mit einem symbolischen Atommüllfass beschenkt, das Roth und Özdemir für eine improvisierte Trommeleinlage nutzten wohl wissend, dass die neu erstarkte Protestbewegung gegen die Atomkraft ihnen wie ihrer Partei insgesamt nützen dürfte.

Voller Begeisterung reagierte Canan Ulufer auf die Wahl des türkischstämmigen Cem Özdemir an die Parteispitze: "Ich habe mich extra als Delegierte wählen lassen, weil Cem für mich schon als Kind ein Vorbild war", erzählt die 29-jährige Hamburgerin. "Seine Wahl ist ein kleiner Schritt für die Grünen, aber ein großer Schritt für die Migranten." Er werde eine Brücke sein zwischen Migranten und der Mehrheitsgesellschaft. Die Frau mit dem grünen Kopftuch hofft, dass es in 20 Jahren ganz normal sein wird, dass Deutschtürken herausragende Positionen in der Politik einnehmen.

Unerwünschter Besuch betrat hinter dem Rücken der feiernden Grünen am Sonnabendabend die Erfurter Messehalle: Rechtsradikale drangen in das Gebäude ein und fotografierten sich, die Arme zum Hitlergruß ausgestreckt, vor dem Grünen-Emblem. Die Polizei wurde gerufen, dem Sicherheitspersonal der Marsch geblasen.

Kaum jemand hatte zuvor von dem Mann gehört, der sich gegen Cem Özdemir für den Posten des Parteivorsitzenden bewarb: Lars Willen. Der 40-jährige Oldenburger hatte satzungsgemäß seine schriftliche Bewerbung eingereicht: Ihm sei an privater Energieerzeugung gelegen und an der Förderung "nachwachsender Rohstoffe wie zum Beispiel Hanf". Wohl ahnend, dass seine Chancen nahe Null lagen, war Willen gar nicht erst zum Parteitag erschienen. Er bekam 9 der 779 Delegiertenstimmen.