52 eng bedruckte Seiten, acht Kapitel, jeweils bis zu 40 Unterpunkte: So umfangreich ist die Vorschrift, mit der Brüssel die Sicherheit eines kleinen Spielzeugs sicherstellen will. Doch selbst die EU-Bürokraten räumen ein, dass Unfälle, die durch Schnuller verursacht werden, “so gut wie nicht bekannt sind“.

Hamburg. Bunte Holzperlen auf einer reißfesten Baumwollschnur. An einem Ende ein Clip, am anderen eine kleine Schlaufe. Eine Schnullerkette, wie sie allein in Hamburg täglich dutzendfach verkauft wird. Gemacht für Babys, genormt von Bürokraten.

Höchstens 22 Zentimeter ist eine solche Kette lang. 22 Zentimeter, mit denen sich 30 Experten der Europäischen Union seit mehr als zehn Jahren immer wieder beschäftigen. Das aktuelle Ergebnis: 52 eng bedruckte Seiten, acht Kapitel, jeweils bis zu 40 Unterpunkte. "DIN EN 12586" heißt das Werk offiziell. "Schnullerkettenverordnung" nennen Gerhard Gollnest (52) und Fritz-Rüdiger Kiesel (54) mit leicht verächtlichem Unterton den Papierstoß, der sich vor ihnen auf dem Schreibtisch türmt. "Der staatliche Regulierungswahn ist völlig grotesk, erstickt jeden unternehmerischen Geist", sagen sie.

Gollnest und Kiesel stellen Holzspielzeug her, mehr als 20 Millionen Spielwaren verkaufen sie jährlich weltweit.Vor mehr als 25 Jahren haben sie ihre gleichnamige Firma gegründet. Wie einst Computerpionier Bill Gates fingen auch die beiden Hamburger Kaufleute in einer Garage an. Mitten in Wilhelmsburg, mit nicht mehr als ein paar Bauklötzen und Glasmurmeln im Sortiment.

Es war der Beginn eines Aufstiegs vom Zwei-Mann-Betrieb zu einem mittelständischen Unternehmen mit knapp 120 Mitarbeitern. Eine Erfolgsgeschichte, wie sie Hunderte Unternehmer, die etwas wagten und wirtschaftlich gewannen, in den 80er-Jahren erlebten. Das, sagen die beiden, habe sich geändert. "Früher hatte man eine gute Idee und hat sie einfach verwirklicht", sagt Gerhard Gollnest. "Heute wird jede kreative Freiheit durch Regeln, Verordnungen und Gesetze gegeißelt."

In Brüssel werden die meisten Richtlinien erlassen, im schleswig-holsteinischen Güster, einem Städtchen mit knapp 1500 Einwohnern im ehemaligen "Zonenrandgebiet", müssen sie täglich umgesetzt werden. Seit 1986 hat die Firma Gollnest & Kiesel hier ihre Verwaltung. Und eine riesige Lagerhalle. Vier Hektar voller Holzeisenbahnen, Puppenhäuser - und Schnullerketten.

"Drei unserer Vollzeitkräfte sind Tag für Tag ausschließlich damit beschäftigt, sich mit den jeweils neuen Verordnungen vertraut zu machen", sagt Fritz-Rüdiger Kiesel, während er durch die Lagerhalle wandert. "Kleine Firmen können diese Bürokratie gar nicht bewältigen." Und dass er sich heute wohl nicht mehr selbstständig machen würde.

Selbstverständlich seien Kontrollen sehr wichtig und sicheres Kinderspielzeug das oberste Gebot. "Niemand wird widersprechen, dass Kinder besonders vor Gefahren geschützt werden müssen", sagen Gollnest und Kiesel. Absurd sei nur, dass jeder theoretisch mögliche Zwischenfall zur Norm erhoben werde. "Mit Schnullerketten, von denen europaweit Millionen Stück im Gebrauch sind, ist noch nie ein Unfall passiert", sagen die Unternehmer.

Das wissen auch die EU-Bürokraten und räumen im Vorwort der sogenannten Schnullerkettenverordnung ein: "Die Anzahl der Unfälle, die durch Schnuller verursacht werden, ist gering und Unfälle, die einen tödlichen Ausgang haben, sind so gut wie nicht bekannt."

Anschließend wird auf 52 Seiten beschrieben, wie Unfälle, die nie geschehen sind, verhindert werden können.

Besonderen Unmut verursacht bei Gollnest und Kiesel der Unterpunkt 5.1.8.2, der die "freie Schnurlänge" bestimmt und der die aktuelle Verordnung gegenüber einer Version aus dem Jahr 1998 verschärfen soll: "Wenn eine Schnur (ausgenommen eine Befestigung formende Schnur) vor oder während den in 6.1.4.1. und 6.1.4.2. beschriebenen Prüfungen der Breite des Bandes so exponiert wird, dass es nicht mehr bedeckt ist, muss bei der Prüfung nach 6.1.4.4. die größte Gesamtlänge der freien Schnur (einschließlich aller zur Anbringung eines Ergänzungsteils benutzten Schnüre) 15 mm betragen ", heißt es.

"Mit gesundem Menschenverstand ist das doch alles nicht mehr nachvollziehbar", sagt Markus Lüneburg (33), der bei Gollnest und Kiesel für die Schnullerketten der Marke Heimess zuständig ist, kopfschüttelnd. Im Klartext geht es in dieser Textpassage um winzige Schmuckfäden an den Holzkugeln. "Kein Baby könnte sich damit jemals strangulieren", sagt Lüneburg.

Für Ulrich Brobeil, Justiziar beim Deutschen Verband der Spielwaren-Industrie in Stuttgart, ist dies ein typisches Beispiel für den staatlichen Regulierungswahn: "Es gibt keinen Gebrauchsgegenstand der seit jeher so umfassend geprüft wird wie Spielzeug. Und trotzdem ist in den vergangenen zehn Jahren eine unvorstellbare Flut von Verordnungen über uns hereingebrochen." Grund sei ein übersteigertes Sicherheitsdenken - wie die aktuelle Debatte um das Verbot des Kinder-Überraschungseis beweise: "Mit dem mit Spielzeug gefüllten Schokoladenei sind Generationen von Kindern groß geworden", sagt Brobeil. "Manchmal habe ich das Gefühl, Gesetze sollen eine Sicherheit vorgaukeln, die nicht erreichbar ist." Fakt sei: Kein Paragraf könne Eltern von ihrer Aufsichtspflicht befreien.

Manche der rund 200 Hersteller, die der Verband betreut, erlitten durch die Verordnungen wirtschaftliche Einbußen, sagt Brobeil - zumal viele Verordnungen von einem Tag auf den nächsten in Kraft träten. "Kosten von 30 000 Euro kommen schnell zusammen", sagen Gollnest und Kiesel. "Wir müssen die Produktion umstellen, Artikel anders verpacken, einen neuen Katalog drucken. Kleine Firmen treibt dieser Aufwand in den Ruin."

Beim zuständigen Gewerbeaufsichtsamt in Kiel hat man wenig Verständnis für die Aufregung um die "Schnullerkettenverordnung": "Die Firma hat offensichtlich etwas durcheinandergebracht", sagt Sebastian Jockusch vom Sozialministerium, dem das Amt unterstellt ist. "Bei der &39;DIN EN 12586&39; handelt es sich nicht um eine Verordnung, sondern nur um eine Norm des Deutschen Instituts für Normung." Der Unterschied? Eine Norm sei unverbindlich, nur ein Konstruktionsvorschlag.

Das stimme so nicht ganz, sagt das Deutsche Institut für Normung selbst auf Nachfrage. Sprecher Peter Anthony: "Eine Norm ist eigentlich tatsächlich nicht verpflichtend. In diesem speziellen Fall ist die Norm aber an eine EU-Richtlinie gekoppelt, hat damit in der Konsequenz dann doch bindenden Charakter."

Verwirrung in Güster. "Da blickt doch niemand mehr durch", sagen Gollnest und Kiesel. Auch Testinstitute wie der TÜV, die Spielwaren auf Sicherheit kontrollieren, seien mittlerweile nicht mehr sicher, was jetzt gelte und was nicht.

In der kommenden Woche wollen die beiden Unternehmer endlich eine eindeutige Antwort bekommen: Gerhard Gollnest und Fritz-Rüdiger Kiesel machen gemeinsam eine Geschäftsreise - nach Brüssel.