Der Demograf Reiner Klingholz über den Kampf um knappe Ressourcen und warum Bildung die beste Pille ist.

Hamburger Abendblatt:

Herr Klingholz, was ist noch übrig von den Endzeithysterien, die Anfang der 1970er-Jahre mit dem Begriff "Bevölkerungsexplosion" einhergingen?

Reiner Klingholz:

Der "Club of Rome", der damals mit seinem Buch "Die Grenzen des Wachstums" apokalyptische Fantasien von Hungersnöten mit Millionen von Toten bis zum Jahr 2000 auslöste, hat damals schlicht die vorhandenen Ressourcen unterschätzt, weshalb die prognostizierten Katastrophen in dieser Form nicht eingetroffen sind. Es war aber nur ein Irrtum auf der Zeitachse, kein grundsätzlicher. Heute, mit einer Verzögerung von 40 Jahren, haben wir das Problem wieder auf dem Tisch.



Abendblatt:

Das müssen Sie uns erklären.

Klingholz:

Die Ölkrise ist auch eine Nahrungsmittelkrise. Für jede Kalorie, die wir zu uns nehmen, werden zuvor zehn Kalorien Öl verbraucht. In den ärmsten Ländern dieser Welt, ob in Somalia, Äthiopien, dem Tschad oder Afghanistan, haben sich die Nahrungsmittelpreise aufgrund des gestiegenen Ölpreises verdoppelt. Von den zwei Dollar, die den Menschen dort im Schnitt pro Tag zur Verfügung stehen, haben sie früher die Hälfte für Nahrung aufgewandt. Heute müssen sie ihr ganzes Geld aufbringen, um nicht zu verhungern. Das zeigt das Ressourcenproblem, das wir haben.



Abendblatt:

Ist das Wachstumshindernis Nummer eins nach dieser Logik nicht eher der Mangel an Öl als die "Bevölkerungsexplosion"?

Klingholz:

Es ist kein Zufall, dass die geburtenstärksten Länder auch die ärmsten dieser Welt sind. Hohe Kinderzahlen verhindern Investitionen in die Bildung und in Arbeitsplätze. Länder, in denen die Fertilität gesunken ist, haben sich fast immer wirtschaftlich entwickelt.



Abendblatt:

Dann müssten Sie der Auffassung sein, dass Mao Recht hatte, als er in China das Gesetz erließ, dass jede Frau nur noch ein Kind gebären darf?

Klingholz:

Ja, so schrecklich diese Anordnung auch war. Andernfalls wäre es in China zu riesigen Hungersnöten und Verteilungskatastrophen gekommen. Die beeindruckende wirtschaftliche Entwicklung dieser Weltmacht, die jetzt maßgeblich zur Verknappung von Öl beiträgt, war nur durch die Reduzierung der durchschnittlichen Kinderzahl chinesischer Frauen von 5 auf 1,7 überhaupt möglich.



Abendblatt:

Das Bruttoinlandsprodukt hat sich zwischen 1900 und 2000 pro Kopf weltweit verfünffacht, während die Bevölkerung von 1,6 Milliarden auf sechs Milliarden wuchs. Relativiert das nicht Ihre Thesen?

Klingholz:

Nein. Die Lebensbedingungen haben sich nur dort verbessert, wo die Kinderzahl gesunken ist. In Somalia geht es den Menschen etwa deutlich schlechter als vor 100 Jahren. Schuld ist das multidimensionale politische, wirtschaftliche und soziale Chaos, das unter anderem eine Folge des Bevölkerungswachstums ist. Solche Staaten werden letztlich fast unregierbar.


Dem lässt sich nur durch Bildung entgegenwirken. Diese ist, wenn man so will, die beste Pille. Junge Frauen, die Perspektiven haben, werden später schwanger und bekommen weniger Kinder.


Abendblatt:

In Deutschland beklagen wir zu niedrige Kinderzahlen.

Klingholz:

Obwohl sich die durchschnittliche Fertilitätsrate 2007 leicht von 1,35 auf etwa 1,4 pro Frau verbessert hat. Das verlangsamt zwar den Schwund ein wenig, kehrt aber nicht den Trend um. Solange der Schnitt unter 2,1 Kindern pro Frau liegt, schrumpfen wir. Wir müssen hierzulande mit den Anpassungsproblemen der alternden Gesellschaft fertig werden, daran wird auch gute Familienpolitik nichts ändern.



Interview: Florian Kain