Zur RAF zu gehören sei wie der Beitritt in eine Sekte gewesen, sagt sie. Das “Denken wurde mir abgenommen“.

Hamburg. Silke Maier-Witt. Wenn sie ihren Namen nennt, löst die ehemalige RAF-Terroristin auch fast 30 Jahre nach ihrem Ausstieg aus der Gruppe noch immer zwei Dinge aus: Bewunderung oder Entsetzen. So wie bei dem älteren Mann mit den etwas wirren grauen Haaren, der an diesem Abend in der Kirchengemeinde in Hamburg-Sasel aufsteht und sagt: "Ich bedaure, dass es den Geist der RAF nicht mehr gibt" oder dem anderen, dem es nicht ausreicht, was sie über ihre Abkehr von der Gewalt gesagt hat. Eine Stunde lang hat die 58-Jährige, die heute als Friedensfachkraft zwischen den verfeindeten Gruppen in Mazedonien vermittelt, im vollen Gemeindehaus zuvor einen sehr ehrlichen Einblick in ihr Leben gegeben. Für ihren Vortrag im Rahmen der Nordelbischen Gesprächsreihe "Gewalt überwinden" war sie extra aus Mazedonien angereist.

Mit ruhiger und fester Stimme beginnt Maier-Witt bei ihrer Geburt im Schwarzwald, "dort, wo er wohl am schwärzesten" ist, ihrem Umzug nach Hamburg mit sechs Jahren und ihrer Zeit auf dem Heilwig-Gymnasium, wo sie erst mit 16 Jahren das erste Mal von der Judenvernichtung durch die Nazis hört. Als sie ihren Vater darauf anspricht, reagiert der aggressiv. "Ich erzähle es, weil ich es für wichtig halte", sagt sie an dieser, wie später noch an einigen anderen Stellen. "Vielleicht wäre mein Leben anders verlaufen, wenn wir darüber geredet hätten." Das klingt nicht wie ein Vorwurf, nicht wie eine Entschuldigung, nur wie eine Feststellung.

Ihr Studium an der Hamburger Universität eröffnet ihr eine "neue Welt", wie sie sagt. 1969. Die Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg, im Audimax redet Rudi Dutschke Silke Maier-Witt schließt sich mal der einen, mal der anderen Gruppe an, landet nach dem Hungertod des inhaftierten RAF-Mitglieds Holger Meins 1974 im Dunstkreis der Terroristen und gibt schließlich ihr Studium auf, um für die RAF Ziele auszuspähen. "Ich habe wenig Fragen gestellt", sagt sie. "Ich fühlte mich sogar geehrt, dass ich die RAF unterstützen sollte, dass man mir das zutraute." Irgendwann schlägt die Tür zur Gesellschaft ganz zu. Als die RAF am 7. April 1977 Generalbundesanwalt Siegfried Buback ermordet, erhält Silke Maier-Witt noch am gleichen Tag von der RAF eine Waffe. Nun lebt sie im Untergrund.

Die Toten, die Waffe, die Banküberfälle, das Passfälschen - das alles hat sie nicht hinterfragt und ihre Gefühle ausgeschaltet. Zur RAF zu gehören sei wie der Beitritt in eine Sekte gewesen, sagt sie im Saseler Gemeindehaus: "Das Denken wurde mir abgenommen." Und als sie für die Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer Wohnungen anmieten soll, ist sie sogar stolz. "Ich wurde für würdig empfunden", sagt sie und fügt ein wenig aufgewühlt hinzu: "Ich weiß, das klingt furchtbar, aber ich muss dazu stehen. Das war so." Noch immer sucht sie eine Erklärung für ihr damaliges Verhalten. Heute ist sie überzeugt, dass viele Gruppen nach genau diesen Mustern funktionieren.

Menschen mit wenig Selbstbewusstsein fühlen sich dort plötzlich zu Dingen fähig und angestachelt, die sie sich vorher nie zugetraut haben. "Das sind die gleichen Mechanismen wie zur Nazizeit", sagt sie. Später, als sie an diesem Abend auf ihre Schuldgefühle den RAF-Opfern gegenüber angesprochen wird, weist sie noch mal auf diesen Punkt hin. Sie habe mit Angehörigen von Opfern gesprochen und sei sich der ganzen Tragweite des RAF-Terrors sehr bewusst. "Meine einzige Möglichkeit ist doch mitzuhelfen, die Gründe dafür zu finden", sagt sie. Das Gruppenverhalten gehört dazu. "Man muss jungen Menschen Selbstbewusstsein geben und offen mit Problemen umgehen", empfiehlt sie. Das ist auch Ziel ihrer Arbeit in Mazedonien.

Doch es hat lange gedauert bis sie selbst dort angekommen ist. Sie löst sich immer mehr von der RAF. Erst gedanklich, dann physisch. Mit neun anderen Aussteigern lässt sie sich 1980 von der Stasi in der DDR verstecken. Ein Land, das sie nicht kennt, das ihr aber irgendwie gefällt. Wieder läuft sie mit, passt sich an, fällt - wie die Stasi es anordnet - nicht auf. Allerdings mit Anlaufschwierigkeiten. Sie soll verbreiten, sie sei aus politischen Gründen aus der Bundesrepublik freiwillig in die DDR übergesiedelt. "Aber der erste Test in der Realität war: Das glaubt keiner", sagt sie. Zumal als sie ihr verbliebenes Westgeld nicht im Intershop umsetzt, sondern es brav auf der Bank tauschen will. Der Mitarbeiter guckt nicht schlecht und verlangt erst mal den Ausweis.

Silke Maier-Witt heißt nun Angelika Gerlach, macht in Hoyerswerda eine Ausbildung zur Krankenschwester, wird dann aber nach drei Jahren von der Stasi nach Erfurt umgesiedelt, dann nach Weimar und später in Berlin versteckt. Ständig ist sie auf der Flucht vor ihrer Vergangenheit. "Ich habe das hingenommen", sagt sie.

Als die Mauer fällt, rechnet sie jeden Tag mit der Verhaftung. Die kommt am 18. Juni 1990. Silke Maier-Witt arbeitet in Neubrandenburg in einem pharmazeutischen Betrieb und holt schwedische Investoren vom Berliner Flughafen ab. Der Fahrer fragt noch, ob sie von den ehemaligen RAF-Terroristen in der DDR gehört habe und sie denkt: "Na, wenn du wüsstest." Kurz danach steht sie mit den Besuchern in einer Halle des Betriebes und zwei Männer stellen sich neben sie. "Sie wissen, warum wir hier sind. Wir müssen Sie mitnehmen", sagen sie. Für Silke Maier-Witt war das "wie im Krimi". Erst im Gefängnis lässt sie ihre Vergangenheit an sich heran. Sie sagt aus und setzt sich mit sich selbst auseinander. "Es war ein schmerzhafter Prozess einzusehen, dass mein Verhalten damals nichts Heroisches hatte", sagt sie. "Es waren meine schlechtesten Charaktereigenschaften. Klein, hässlich, verabscheuungswürdig."

Während ihrer sechsjährigen Haft studiert sie Psychologie. Doch als sie danach ein selbstbewusstes und selbstbestimmtes Leben führen will, stößt sie schnell an ihre Grenzen. Ihre Bewerbung als Friedensfachkraft im Kosovo im Auftrag der Regierung droht an deren Bedenken zu scheitern. Doch diesmal will Silke Maier-Witt das nicht hinnehmen. Sie ruft beim damaligen Generalbundesanwalt Kay Nehm an und bittet ihn um eine "Unbedenklichkeitsbescheinigung". Lange hört sich zunächst sein Referent ihre Bitte und Beweggründe an, um dann nur eine Frage zu stellen: "Und warum denken Sie, sollte der Generalbundesanwalt das tun?" Ja, warum eigentlich, fragt sich auch Silke Maier-Witt. Schließlich ermordete die RAF einen seiner Vorgänger. Kay Nehm hat es trotzdem getan und so ist Silke Maier-Witt auf dem Balkan angekommen.