Eintauchen in “Public Mood“, die gute Stimmung der Fans, nennen es die Soziologen. Niemand beherrscht dieses Spiel so meisterhaft wie  Angela Merkel.

Hamburg. Angela Merkel bangt, jubelt und plauscht mit Jogi Löw. Österreichs Kanzler Gusenbauer sucht wenigstens auf der Tribüne Popularität, Hollands Prinz Willem Alexander zeigt offensives Orange. Gerhard Schröder schüttelte demonstrativ Fan-Hände (WM 2002), Helmut Kohl umarmte öffentlich Franz Beckenbauer (WM 1990). Bei großen Fußballereignissen gesehen zu werden ist für Prominente und Politiker schöner als Wahltag und Weihnachten zusammen. Den Zusammenhang zwischen Fußball und Politik haben Soziologen und Massenpsychologen nun in einen Begriff gegossen: Die Stimmung bei Fußballländerspielen ist ein Ausdruck von "Public Mood".

Das ist quasi die emotionale Seite unserer nationalen Identität, definiert die Bundeszentrale für politische Bildung. Wenn unsere Nationalmannschaft spielt, können wir "uns" auf positive und spannende Weise in der Welt verorten - sogar am Fernseher. Für Politiker heißt das: raus aus den EU-Verhandlungen, rauf auf die Tribünen, rein in die "Public Mood".

Niemand macht das geschickter als Angela Merkel, deren Kanzlerschaft ja auch in die Hoch-Zeit des Public Viewing fällt. Fußballmäßig ist sie allgegenwärtig: Vor dem Spiel schickt sie ermunternde Grußbotschaften, simst an die Nationalmannschaft, bedankt sich hinterher mit offenen Briefen, verbringt mit den Spielern auch feuchtfröhliche Abende wie bei der WM 2006.

Und sie macht eine bemerkenswert gute Figur: Die jüngsten Bilderserien aus den Stadien zeigen eine ganz unstaatsmännische Kanzlerin mit mädchenhaftem Charme. Der fiel sogar im Ausland auf: "Schweinsteiger, homme du match et chouchou de la chancelière" titelte die französische Agentur AFP über Merkels Rendezvous mit dem jungen Stürmer (chouchou heißt Liebling). Andere Medien sehen in Merkel Jogi Löws mentale "Geheimwaffe". 1:0 für Merkel: Mehr "Public-Mood"-Verbindung geht nicht.

Dabei hatte sie mit einem Handicap starten müssen. Immerhin war sie schon Ehrenmitglied von Hansa Rostock. Aber als Frau kann sie nicht einfach in die Spielerkabine stürzen wie Vorvorgänger Helmut Kohl, und sie hat auch in Jugendzeiten nicht im Verein gebolzt wie Vorgänger Gerhard Schröder. "Die CDU-Chefin ist engagiert in den Bergen unterwegs, hat aber nie Fußball gespielt", schrieb der "Spiegel" 2004 süffisant. "Auch ihre ostdeutsche Herkunft ist in Fußballangelegenheiten ein Wettbewerbsnachteil. Wenn der Kanzler (Schröder) in Erinnerungen an die WM-Siege von 1954, 1974 oder 1990 schwelgt, dann ist die alte Bundesrepublik gemeint. Wovon soll Merkel schwärmen - vom 1:0 der DDR gegen die Bundeskicker 1974 in Hamburg?"

Damals versuchte Noch-Kanzler Schröder gezielt seinen Platzvorteil auszubauen: Ihn elektrisierten die Chancen, die sich durch die Fußball-WM 2006 für den Bundestagswahlkampf ergeben könnten. Mit aller Kraft betrieb er zusammen mit Außenminister Joschka Fischer, Innen- und Sportminister Otto Schily und der Hamburger Werbeagentur Zum Goldenen Hirschen das Projekt "FC Deutschland 06", das im WM-Jahr zur "größten Optimismusshow" des Landes werden sollte. Stockende Reformen, aber "WM-Kanzler Schröder" - das wär's doch.

Hat aber nicht sollen sein. Stattdessen ist die angeblich ahnungslos bergsteigende Angela Merkel als Bundes-Fußballfan eingeschert, und wie. Nach dem WM-Finale stahl sie bei der Medaillenverleihung sogar dem bis zum Hinterkopf strahlenden Bundespräsidenten Horst Köhler die Show: Umarmt wurden die Spieler von ihr.

War vielleicht sogar schöner.

Denn die vorgeblich so männerverbrüdernden Szenen auf Tribünen und in Kabinen können auch gewaltig nach hinten losgehen. Unvergessen ist, wie Kanzler Kohl 1986 nach dem WM-Finale Deutschland gegen Argentinien (2:3) in Mexiko-Stadt "den klassischen Ranschmeißer" gab, wie Jürgen Leinemann im "Spiegel" genüsslich ausbreitete: Dem durch Verletzung geschwächten Teamkapitän Rummenigge habe Kohl "durch gekonnten beidhändigen Zug an seine Brust die Luft genommen"; aus der Tiefe des Raumes sei er dann über den reaktionsschwachen Torhüter Toni Schumacher gekommen wie ein Hustinettenbär, selbst den flinken Littbarski habe seine pfälzische Pranke noch erreicht. Nur Felix Magath sei es "mit einer eleganten Körpertäuschung gelungen", rechtzeitig auszuweichen. Mehmet Scholl wurde später von ARD-Reportern gefragt, wie es mit Kohl in der Kabine gewesen sei. Scholl sagte kurz: "Eng."

Nicht alle Nachkriegskanzler tappten in diese Abseitsfalle. Konrad Adenauer habe gewusst, was eine Rosenschere ist, "konnte aber einen Torpfosten nicht von einer Eckfahne unterscheiden", so die "Zeit". Nachfolger Ludwig Erhard durfte man nicht stören, wenn Eintracht Nürnberg spielte, erinnert sich Hans Tietmeyer, der später Bundesbank-Chef wurde; aber ein Staatsmann ließ sich damals bei einem proletarischen Fußballspiel nicht blicken. Das änderte sich erst unter Willy Brandt und Helmut Schmidt in den 70er-Jahren, die man immer mal wieder rauchend auf der Tribüne sah. Zum regierungsbegleitenden PR-Faktor wurde der Fußball aber erst unter Kohl. Seither hieß es: "Zwölf Freunde müsst ihr sein, und einer davon bin ich."

Auch Gerhard Schröder schaltete sich schon 1998 vor seinem Wahlsieg über Kohl gezielt in Ballfragen ein. Als Deutschland damals bei der WM in Frankreich 0:3 gegen Kroatien verlor, kommentierte Schröder bissig: "Wir lasten die Niederlage nicht dem Bundeskanzler an", die Opposition verlange aber "eine neue Mannschaft". Joschka Fischer legte nach, in der Politik seien "neue Leistungsträger reichlich vorhanden". Kurz danach war Kohls Ära zu Ende.

Nach der vergeigten EM 2000 stellte sich Schröder schützend vor den glücklosen Teamchef Lothar Matthäus. Bei der WM 2002 ließ er sogar einen SPD-Wahlparteitag verschieben, der das Auftaktspiel gegen Saudi-Arabien gestört hätte. Um beim Finale gegen Brasilien in Yokohama Präsenz zu zeigen, ließ sich Schröder vom G8-Gipfel in Kanada von Japans Ministerpräsidenten Koizumi in dessen Regierungsmaschine mit nach Japan nehmen.

Der Publizist und Fußballfan Norbert Seitz behauptet: Immer wenn die Deutschen Triumphe auf dem Rasen feiern können, gewinnt der gerade amtierende Kanzler die Wahl. Das sei nach dem "Wunder von Bern" 1954 so gewesen, als Adenauer 1957 sagenhafte 50,2 Prozent für die CDU einfuhr. Wenige Monate nach dem EM-Sieg 1972 gewann der Sozialdemokrat Willy Brandt die Wahlen, 1990 nach dem WM-Sieg in Rom Einheits-Kanzler Kohl.

Kein Wunder, dass Angela Merkel seit zwei Jahren eine geradezu atemberaubende Tribünenpräsenz zeigt: Die WM 2006 fiel ihr quasi in den Schoß, aber nun muss sie an 2009 denken. Im realen Politikerleben hat sie Ärger mit den Türkischen Gemeinden in Deutschland, die Merkels Zuwanderungspolitik und vor allem den geplanten Einbürgerungstest harsch kritisieren; da ist es ja viel schöner, das Fußballspiel gegen die Türkei anzugucken - erst recht, wenn Deutschland gewinnt. Im wirklichen Politikerleben nerven Armutsberichte, CSU-Steuerpläne und angegraute SPD-Minister - da lässt man sich doch lieber von den Wogen der "Public Mood" in die Arme von Podolski oder Frings treiben.

Der SPD hingegen fällt nur ein, miesepetrig gegen Jogi Löw zu stänkern, weil der sich beim nervenzerfetzenden EM-Viertelfinalspiel gegen Portugal in der verglasten Loge eine Zigarette angezündet hatte. Und Tausende SPD-Fußballfans rätseln: Wo ist eigentlich Kurt Beck?