Vor einem halben Jahrhundert herrschte Tabula-rasa-Stimmung in der SPD. Denn bei den Bundestagswahlen im Jahr 1957 hatten die Sozialdemokraten 31,8 Prozent der Stimmen geholt. Das galt als Desaster, als Ausdruck eines hoffnungslosen Oppositionsschicksals. Das wurde dann zur Ouvertüre für eine radikale Erneuerung der SPD. 1958 krempelte man die Organisation um. 1959 gab man sich in Bad Godesberg ein neues Programm. Und 1960 setzte man einen strahlenden Jungstar als Kanzlerkandidaten an die Spitze: Willy Brandt.

Im Jahr 2008 ist die SPD von diesem 30-Prozent-Turm weit entfernt. Sie ist nunmehr noch weitere zehn Punkte tiefer, in die Düsternis des 20-Prozent-Kellers versunken. Doch sehen wir derzeit nirgendwo selbstbewusste Parteioppositionelle, kraftvolle Parteireformer, vorwärts stürmende neue Talente, glanzvolle Programmatiker einer neuen Sozialdemokratie. Man hat den Eindruck: Die SPD stirbt kraftlos ab. Eine Partei implodiert.

Die Krise der SPD ist allein auf Kurt Beck jedenfalls nicht zurückzuführen. Die Krise dieser Partei ist mittlerweile strukturell und anhaltend. Denn die Partei verliert Zug um Zug, was sie einst stark und stolz gemacht hat, weshalb sie überhaupt 145 Jahr alt wurde. Früher waren der SPD ihre arbeitnehmerischen Kerntruppen selbst in schlimmsten Krisenzeiten sicher. Partei der Arbeiter zu sein - das war für die SPD Ethos und Mission.

Jetzt aber sind rund ein Fünftel der unteren Schichten dieser Republik ihrer früheren Partei abtrünnig geworden, sind in die politische Apathie gefallen oder ins Lager des Oskar Lafontaine gewechselt. Der unsentimentale Abschied der Arbeiter von der SPD hat dem über ein Jahrhundert aufgeschichteten sozialdemokratischen Selbstverständnis die historische Voraussetzung und das traditionelle Ziel - die Emanzipation der unteren Schichten - entzogen.

Bis vor einigen Jahren besaß die SPD noch diese feste Vorstellung von Zukunft, den Glauben an einen gesellschaftlichen Auftrag. Davon war gewiss vieles dogmatisch, aber der utopische Überschuss beflügelte ihre Mitglieder und Anhänger. Heute wissen die Sozialdemokraten nicht, was ihre Parteiführer im Schilde führen, welche politische Ethik und Begründungen eigentlich noch - vor allem: wie lange jeweils - gelten. Das hat die einst so engagierten Kerntruppen der SPD "entmündigt", hat sie sprach- und ziellos gemacht.

Früher kannte man seinen sozialdemokratischen Kollegen, Nachbarn und Freund als einen hochaktiven, diskussionsfreudigen, leidenschaftlichen, auch freundlichen Menschen. Heute hingegen wirkt er stumm, ratlos, ja oft verbittert und übellaunig. Aber wer gibt schon einer Partei die Stimme, die erkennbar nicht mit sich selbst im Einklang lebt, die mit sich fremdelt, ja sich selber nicht mehr mag?

Seit 1990 hat die SPD Mitglieder im Umfang von vier Großstädten verloren. In Nordrhein-Westfalen, das vier lange Jahrzehnte als stolze, uneinnehmbare Zitadelle der Sozialdemokratie firmierte, hat die CDU des Arbeiter- und Rentnerführers Jürgen Rüttgers die SPD seit 2003 an Mitgliederzahl weit, um inzwischen 22 000 Zugehörige überholt. Im sozialdemokratischen Unterbezirk Dortmund, der bis zum Überdruss zitierten "Herzkammer" der deutschen Sozialdemokratie, zählt die SPD nicht mal mehr ein Drittel ihres Bestandes von 1969.

So mutiert die Sozialdemokratie zum Parteitypus der in ihren Reihen über viele Jahrzehnte nahezu verachteten bürgerlichen Honoratiorenpartei. Demnächst wird man wohl Meldungen lesen können, dass die CDU erstmals in ihrer Geschichte mehr Mitglieder zählt als die Partei Kurt Becks. Mitte der 1960er Jahre übertraf die SPD die CDU noch um etwa 450 000 Mitglieder. Alles perdu.

Nun ist es nicht so überraschend, dass Parteien nach zehn Jahren in der Regierung allmählich erschlaffen, das Feuer des Neuanfangs verlieren. So war es bei den Sozialdemokraten schließlich auch schon zum quälenden Ende der Ära Schmidt vor gut einem Vierteljahrhundert. Aber man bemerkte damals, dass da auch etwas Neues nachrückte, gerade auch in den Bundesländern. Davon allerdings ist heute partout nichts zu sehen. Es fehlt der kraftvolle Führungsnachwuchs, es fehlen die politischen Begabungen von morgen. Wohin man auch blickt, man erkennt in der Partei nicht den künftigen politischen Scout und Truppenführer, nicht den konzeptionell brillanten Außenpolitiker für das Jahr 2010, nicht den originellen Sozialpolitiker für die postindustrielle Gesellschaft, der den "Linken" Paroli bieten könnte, auch nicht den modernen Ökologen, der die neuen Mittelschichten beeindrucken und von den "Grünen" zurückzuholen vermöchte.

Die SPD ist ausgeblutet wie vielleicht noch nie in ihrer Geschichte. Deswegen gibt es in diesen Tagen auch keine Palastrevolution gegen die Berliner "Machtzentren". Für eine solche Revolte fehlen die kühnen Rebellen; es fehlen inhaltlich wie personell die anderen Möglichkeiten.


Franz Walter ist Parteienforscher und Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen.