Martin Grauduszus, Präsident der Freien Ärzteschaft, über die Praxis der Zukunft und den Protest der Mediziner gegen die Gesundheitskarte.

ABENDBLATT: Herr Grauduszus, die niedergelassenen Ärzte haben Proteste im kommenden Frühjahr angekündigt. Sogar wochenweise wollen sie ihre Praxen schließen. Warum diese drastischen Maßnahmen?

MARTIN GRAUDUSZUS: Das soll nicht zum Schaden der Patienten sein, das hat Symbolcharakter. Wir wollen den Patienten zeigen, was sie in den nächsten Jahren erleben werden: dass die Türen der Praxen möglicherweise ganz zubleiben.

ABENDBLATT: Weil die Honorare für Hausärzte so niedrig sind?

GRAUDUSZUS: Nein, weil die freie Praxis nur wenige Überlebenschancen hat. Es läuft darauf hinaus, dass die Zahl der sogenannten Medizinischen Versorgungszentren zunehmen wird. Diese Pläne sind eine Blaupause für die Einführung von Polikliniken wie in der ehemaligen DDR.

ABENDBLATT: In Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) sind mehrere Ärzte unter einem Dach. Man kann womöglich schneller von einem Hausarzt zum Spezialisten. Und die Krankenkassen versprechen eine Kostensenkung. Was ist daran so schlecht?

GRAUDUSZUS: Das klingt wie die Geschichte des Rattenfängers von Hameln. Die Politik und die Industrie schwärmen schon heute davon, dass sich innerhalb weniger Jahre der Umsatz in der Gesundheitswirtschaft verdoppeln soll. Die Einzelleistungen werden durchschnittlich doppelt so teuer. Dass weniger Geld ausgegeben werden soll, ist falsch. Die MVZ werden Einweiserportale für die Krankenhäuser. Dadurch erhöhen sich die Kosten noch einmal. Die MVZ sind auch nicht um jede Ecke. Da werden dann für die Patienten Fahrtstrecken von 30 oder 40 Kilometern zumutbar.

ABENDBLATT: Aber im MVZ steckt doch viel Kompetenz unter einem Dach?

GRAUDUSZUS: Den medizinischen Charme kann ich nicht erkennen. In Zukunft werden die Fachärzte nicht mehr flächendeckend vorhanden sein. Man hat dann angestellte Ärzte wie in den Ambulanzen der Kliniken schon heute. Da hat man nicht immer denselben Arzt, sondern immer einen anderen. Welcher Patient will denn das? Es wird suggeriert, dass durch die elektronische Gesundheitskarte die Daten dann dem jeweiligen Arzt zur Verfügung stehen. Wenn ein Arzt den Patienten nicht kennt und er muss sich anhand einer fremden Akte sachkundig machen, kostet das viel Zeit. Die Aufarbeitung von Akten dauert Stunden. Die Zeit geht verloren für die entsprechende Medizin, die auch von den Patienten für sehr wichtig erachtet wird.

ABENDBLATT: Für den Patienten scheint das geballte Facharztangebot aber besser zu sein.

GRAUDUSZUS: Die MVZ sind ein lukratives Geschäftsfeld, denn man hat dort hochwertige und kostspielige Gerätemedizin an einem Ort. Im MVZ kann der Patient sofort weitergeleitet werden. Der Hausarzt dort lässt den Patienten röntgen, weil der Schmerzen im Brustkorb hat. Dann schickt er ihn zum Orthopäden. Es könnte ja eine Sache sein, die vom Rücken ausgeht. Der Orthopäde ist nicht sicher und sagt: Es könnte auch was am Herzen sein, gehen wir mal zum Kardiologen. Der macht seine technischen Untersuchungen, stellt nichts fest. Lassen wir noch mal den Gastroenterologen nachschauen, ob was an Speiseröhre oder Magen ist. So habe ich den Patienten, der sonst nur zu seinem bekannten Hausarzt gekommen wäre, von fünf Kollegen mit großem apparativen Aufwand ansehen lassen.

ABENDBLATT: Auch wenn sich viele im Gesundheitswesen den Protesten angeschlossen haben: Ihre Kampagne gegen die elektronische Gesundheitskarte ist schon starker Tobak. Die Kassen sagen, dass die Versicherten sich mehrheitlich für die E-Card ausgesprochen haben. Und die Abrechnung von Medikamenten soll transparenter werden.

GRAUDUSZUS: Ich kann nicht sehen, dass man dadurch die Kosten für Medikamente in den Griff bekommt. Man kann aber die Medikamente dem einzelnen Patienten zuordnen und ihn dann in Risikoklassen einteilen. Da bekommt er einen Stempel. Schon heute ist es bei manchen Kassen so: Wenn ein Versicherter wechseln will, ist in die Datenverarbeitung ein Programm integriert, das aufleuchtet: Den kannst du ziehen lassen, der kostet nur. Und um den musst du dich bemühen, der bringt viel Geld. Wenn dieser Stempel öffentlich wird, kann sich das auf die Arbeitsplatzwahl auswirken oder auch beim Abschließen von Lebensversicherungen.

ABENDBLATT: Auch politisch ist die E-Card gewollt. Selbst wenn die Einführung hakt, kommen wird sie.

GRAUDUSZUS: Das Projekt elektronische Gesundheitskarte basiert auf einer politischen Lüge.

ABENDBLATT: Wer hat die zu verantworten?

GRAUDUSZUS: Das Bundesgesundheitsministerium. Den Menschen wird signalisiert: Es kommt alles auf eine Karte, du kriegst deine medizinischen Daten mit. Das ist nicht so. Die Daten lagern bei privaten Anbietern oder den Krankenkassen. Die Studie der Unternehmensberatung Booz, Allen, Hamilton zeigt, dass die E-Card noch teurer wird, weil 56 Prozent der Praxen neue Computer brauchen. Das ist in den dort prognostizierten sieben Milliarden Euro noch nicht eingerechnet.