Ansichtssache

Deutschland im Ausnahmezustand. Seit Wochen wirft der G-8-Gipfel in Heiligendamm seine unheiligen Schatten voraus. Ganze Landstriche werden zu Hochsicherheitszonen umgestaltet, Gerichte bestätigen oder widerrufen polizeiliche Präventionsmaßnahmen, zweit- und drittklassige Politiker profilieren sich mit Erwartungshaltungen an die Gipfelteilnehmer, Globalisierungsgegner von Attac oder Greenpeace nutzen die Gunst der Stunde, um die moralische Keule gegen Ausbeutung, Unterdrückung und Verschwendung zu schwingen.

Selten zuvor in der Geschichte solcher Gipfel hat es ein höheres Maß an öffentlicher Aufregung gegeben. Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger fühlt sich an Krieg und Diktatur erinnert, was bei "Zartfühlenden zu allerlei Missverständnissen führen kann". Selten auch hat es einen größeren Widerspruch zwischen Erwartungen an das Treffen und vermutlichem Ergebnis gegeben.

Und warum das alles? Weil zur hohen Politik auch bombastische Szenarien gehören? Der Schein das Sein bestimmt? Kann es überhaupt eine vernünftige Rechtfertigung für ein Treffen geben, an dem 2000 Menschen teilnehmen (Staats- und Regierungschefs nebst Mitarbeitern und Sicherheitskräften), zu dem etwa 100 000 Demonstranten und Tausende von Journalisten erwartet werden und bei dem mehr als 10 000 Polizisten für die Einhaltung der öffentlichen Ordnung sorgen sollen? Ginge das bitte nicht auch alles eine Nummer kleiner?

Helmut Schmidt, einer der Gründer des Vorläufers der G-8-Gipfel, erinnert sich, wie alles begann, damals im Jahr 1975 beim ersten Weltwirtschaftsgipfel. Da kamen die Spitzen der sechs größten Industriestaaten im Schloss Rambouillet bei Paris zusammen, um vor allem über die Auswirkungen und Bewältigung der Ölkrise zu beraten. Wirtschaft und Handel, internationale Währungskrisen waren die großen Themen. "Wir haben uns in einem Wohnzimmer getroffen . . . Es waren private Treffen, keine riesigen Trosse nahebei", kritisiert der Altkanzler jetzt.

Doch von 1975 bis heute ist viel geschehen, werden die Gipfel von Jahr zu Jahr von einer Dynamik des "immer mehr und immer größer" erfasst. Inzwischen, so Schmidt, seien die Gipfeltreffen, auf denen über alles geredet werde, leider zu Medien-Events verkommen, und die Teilnehmer seien selbst schuld daran. Ähnlich wie Enzensberger schlägt der Altkanzler vor, solche Treffen künftig eher auf einer einsamen Insel zu veranstalten, weit abgelegen.

Kleinlicher Zynismus zweier erfahrener älterer Männer, die sich über die heutige Politikergeneration lustig machen? Oder gar undemokratische Kritik am Demonstrationsrecht der Globalisierungsgegner? Wohl kaum. Vielmehr eine nüchterne Beurteilung eines unverhältnismäßigen Klamauks, bei dem internationale Politik zur Farce verkommt, bei einer einzigartigen Verschwendung großer Summen von Geld.

Allein fast 50 Millionen Euro rechnet die Bundesregierung für das Treffen. Wie viel die Globalisierungsgegner von Großorganisationen wie Attac und Greenpeace ausgeben, werden wir kaum erfahren. Aber auch dieser Betrag dürfte in die Millionen gehen. Rechnet man dazu den volkswirtschaftlichen Schaden, der durch zu erwartende gewaltsame Aktionen noch hinzukommen wird, bleibt beim zuschauenden Bürger nur noch Wut übrig.

Dabei gäbe es so viel sinnvollere Projekte für verantwortliches Handeln der reichen Industriestaaten. Zum Beispiel, indem nicht nur über das Leid afrikanischer Länder lamentiert wird - auch dies ist ja neben der Umwelt ein Thema des Gipfels -, sondern indem konkrete Hilfe geleistet wird. Nur ein Bruchteil dieser gigantischen Gipfelkosten reichte aus, um Tausende Schulen auf dem Schwarzen Kontinent zu bauen und Lehrer zu bezahlen.

Aber vielleicht werden wir ja alle noch eines Besseren belehrt, und die "Weltregierung" überrascht die Welt tatsächlich doch noch mit konkreten Ergebnissen. Bis zum Beweis des Gegenteils gebührt dem leise arbeitenden Arzt, der einmal im Jahr 14 Tage seines Urlaubs in einem afrikanischen Dorf verbringt, jedenfalls weit mehr Respekt als allen Politikern und Globalisierungsgegnern, deren Protest sich in lautstarker Rhetorik erschöpft.