Wieso verstehen viele nicht mehr, was Politiker tun? Weshalb sind manche in der CDU so frustriert? Ist gar das demokratische System in Gefahr? Der hessische Ministerpräsident im Abendblatt-Interview.

Wiesbaden. ABENDBLATT: Im neuen Berliner Hauptbahnhof gibt es einen Hinweis mit der Aufschrift: "400 Meter von hier regiert das Volk, www.Bundestag.de." Entspricht diese Aussage noch der politischen Realität in unserem Lande?

ROLAND KOCH: Ich glaube, dass man in der Diskussion über politische Akzeptanz und Führung unterscheiden muss zwischen dem Gefühl der allermeisten Bürger, dass sie gerne in unserem Land leben und alles in allem zufrieden sind, und der Frustration darüber, dass manche Dinge sie belasten, verängstigen oder ärgern. Meine Einschätzung ist, dass die Grundverankerung der demokratischen Struktur stabil ist und die Bürger mehrheitlich davon überzeugt sind, dass das parlamentarische System zu ihrem Nutzen und nicht zu ihrem Schaden arbeitet.

ABENDBLATT: Keine Sorge also um unsere Demokratie?

KOCH: Nein. Dennoch darf uns die aktuelle Entwicklung nicht gleichgültig sein. Die Distanz zwischen dem Bürger und jenen, die Politik machen, ist gewachsen. Das macht mir schon Sorgen.

ABENDBLATT: Was sind die Gründe dafür, dass sich nach jahrzehntelanger demokratischer Erfolgsgeschichte der Wind in der Bundesrepublik so dreht?

KOCH: Wir erleben in Deutschland einen zentralen Veränderungsprozess. Nicht alles, was geschieht, verbessert die eigene Situation. Es müssen mehr Risiken übernommen werden, von manch Liebgewonnenem müssen wir uns auch verabschieden. Da liegt es nahe, dafür auch das System und die Politiker verantwortlich zu machen. Dieser Prozess ist übrigens nicht auf Deutschland beschränkt. Außerdem ist nicht zu übersehen, dass die Vorgänge immer komplizierter werden und die Art, wie Medien diese Vorgänge betrachten, segmentierter wird. Das führt dazu, dass immer mehr Menschen sagen: "Ich durchschaue das alles nicht mehr, was die da treiben." Das war in Zeiten einfacher nationaler Strukturen leichter zu bewältigen. Eine große Herausforderung für uns Politiker.

ABENDBLATT: Von einer Schön-Wetter-Demokratie würden Sie aber nicht sprechen?

KOCH: Nein. Jedes System, ob Familie oder Verein, ächzt, wenn es unter Belastung steht. Die Frage ist, ob es unter der Belastung standhält. Und da sage ich ganz klar: Es gibt überhaupt keine Anzeichen dafür, dass unser System in der Gefahr lebt, nicht standhalten zu können. Es ist außerordentlich stabil.

ABENDBLATT: Das System mag stabil sein. Der Ruf der Politiker ist dagegen schlecht, und für ihre Arbeit erhalten sie vom Bürger schlechte Noten. "Schlampig" lautete das Urteil beim Nichtrauchergesetz. Und die Gesundheitsreform gilt geradezu als Musterbeispiel kollektiven Versagens der Regierenden.

KOCH: Man muss da schon unterscheiden. Beim Nichtrauchergesetz wurde ein Fehler gemacht. Das kann passieren. Das Gesundheitsgesetz wiederum ist ein gutes Beispiel dafür, wie schwierig es wird, in einer lobbyvernetzten Gesellschaft, in der die Beteiligten eine laute Stimme haben, noch einen Konsens über irgendwas zu erzielen. Das derzeitige Bild der Gesundheitsreform sagt aber über ihre Qualität fast nichts mehr aus.

ABENDBLATT: Das müssen Sie erklären . . .

KOCH: Dieser allgemeine Widerstand gegen die Reform ist gespeist aus dem Blick jedes Betroffenen auf seinen Teil. Da alle etwas abgeben müssen, sind alle unglücklich - die Ärzte und Apotheker, die um ihr Einkommen fürchten, die Krankenkassen, die um ihre Beiträge bangen. Und alle reden den Patienten ein, dass alles ganz schlimm wird - Tag für Tag. Das heißt aber längst nicht, dass alles schlecht ist, nur weil es schlecht gemacht wird. Die Bilanz werden wir später ziehen.

ABENDBLATT: Sie haben jetzt drei Lobbygruppen genannt. Wo bleibt eigentlich der Patient?

KOCH: Die Patienten haben ja nur die rezipierte Meinung der drei Gruppen. Am Ende ist dann für alle alles Blödsinn. Eine solche Nebelwand haben wir jetzt.

ABENDBLATT: Ganz so einfach ist das aber nicht. Selbst in den Regierungsparteien gibt es große Skepsis.

KOCH: Ein Beispiel: Die Krankenkassen haben uns erklärt, dass das System zu einer Vereinheitlichung der Beiträge und der Leistung führen wird. Das Gesetz steht noch nicht im Bundesgesetzbuch, aber schon schießen aus dem dunklen Walde die ersten Konzepte für Wettbewerb. Wahlleistungstarife, Selbstbeteiligung, also alles, was die Bundeskanzlerin immer gesagt hat und wir wollten, wird jetzt plötzlich angedacht, nachdem es über Monate von allen als unmöglich bekämpft wurde.

ABENDBLATT: Ist das eine Forderung nach mehr Standhaftigkeit?

KOCH: Wir müssen lernen, in der Politik öfter den Atem zu haben, über diese sehr moderne Welle hinwegzukommen, erst einmal alles zu verhindern. Wir müssen über eine längere Zeit beweisen, dass unsere Einschätzung nicht falsch ist. Das gelingt nicht immer. Aber demokratische Stabilität wird auf Dauer davon abhängen, ob wir es schaffen, über die erste Hürde des Protestes hinwegzukommen, ohne dabei unsensibel zu werden. Und weiterhin präzise zu arbeiten, sodass nach einer gewissen Zeit die Leute sagen können: "So schlecht haben die das doch gar nicht gemacht."

ABENDBLATT: Sie werden also dem Gesetz zur Gesundheitsreform im Bundesrat zustimmen?

KOCH: Ja. Wir sind wie alle anderen nicht mit allem glücklich, aber es ist jetzt zustimmungsfähig. Mit der Gesundheitsreform verhält es sich übrigens ähnlich wie bei der Mehrwertsteuererhöhung.

ABENDBLATT: Wie das?

KOCH: Denken Sie mal an die Voraussagen, die noch vor sechs Monaten gemacht wurden. Der Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft, gigantische Preissteigerungen wurden an die Wand gemalt.

ABENDBLATT: Dass es nicht so kam, hat doch aber selbst die Politik überrascht.

KOCH: Mich nicht. Es ist präzise so gekommen, wie die, die fachlich zuständig waren - Peer Steinbrück und ich - es vorausgesagt haben.

ABENDBLATT: Nun hat das Jahr gerade begonnen. Warten wir doch mal ab . . .

KOCH: Nein, da passiert nicht auf einmal im zweiten oder dritten Monat sensationell anderes als im Januar. Das ist nicht sehr logisch. Nein, auch dieses Beispiel zeigt, dass es illusorisch ist, dass irgendeiner eine Mehrwertsteuererhöhung gut findet. Politisch war sie dennoch notwendig. Lassen Sie uns also in einem Jahr noch einmal darüber reden. Dann werden wir sehen: Die Erhöhung hat den Staatshaushalt an wichtigen Stellen saniert, sie hat den Konsum nicht abgewürgt, uns auch volkswirtschaftlich nicht geschadet, und die Maastricht-Kriterien werden eingehalten. Aber wahrscheinlich wird dann immer noch einer kommen und kritisieren, das Wachstum wäre ohne Mehrwertsteuererhöhung sicher besser ausgefallen.

ABENDBLATT: Früher forderte man mehr Mut vor Fürstenthronen. Heute gilt also nach Ihren Worten umgekehrt: Mehr Mut gegenüber dem Souverän?

KOCH: Eindeutig ja. Und ich bin auch davon überzeugt, dass viele Bürger diesen Mut vermisst haben. Politik muss konsequenter werden.

ABENDBLATT: Hat Angela Merkel bei den letzten Wahlen nicht eine ganz andere Quittung für Standfestigkeit und Ehrlichkeit bekommen?

KOCH: Es gibt drei Phasen: die Ankündigung, das Durchsetzen und die Bilanz. Und ich bin fest davon überzeugt, dass es notwendig ist, Kurs zu halten. Nur so kann die Politik die Akzeptanz durch den Bürger zurückgewinnen. Nur so können die Parteien beim Bürger wieder Vertrauen erwerben.

ABENDBLATT: Hält denn Ihre Partei Kurs, zu deren Vorsitzenden Sie ja gehören?

KOCH: . . . das ist eine sehr kollektivistische Bemerkung . . . (lacht)

ABENDBLATT: Was ist schiefgelaufen, dass die Union nur noch eine bundesweite Wählerzustimmung von weniger als 40 Prozent erhält?

KOCH: Das ist ja schon großzügig formuliert. 40 Prozent zu erreichen wäre ja schon schön. Der Bürger will in der Veränderung der Gesellschaft mutige Ansätze. Aber kein Mensch ist mutig unter der Führung von Menschen, denen er nicht viel zutraut. Und im Augenblick traut man den Parteien wenig zu. Das hat Auswirkungen auf Wahlen. Das Resultat sind Große Koalitionen. Solange aber kein hinreichendes Vertrauen da ist, so lange ist ein ambitioniertes Konzept schwer machbar. Die Akzeptanz von Parteien geht nur über Erfolge, nicht über Kongresse und Reden.

ABENDBLATT: Diese Erfolge scheinen aber gerade in der Großen Koalition manchem zur Belastung zu werden, wie sich an der Ankündigung von Friedrich Merz zeigt, sich aus der Politik zurückzuziehen. Auch Ihr Kollege Bosbach zeigt sich eher frustriert.

KOCH: Natürlich mutet eine Große Koalition ihren Anhängern und Entscheidungsträgern Kompromisse zu, die manchmal weit jenseits dessen liegen, was man eigentlich möchte. Nicht nur die Gesundheitsreform hat gezeigt, dass die Fliehkräfte in beiden großen Bundestagsfraktionen schnell zunehmen. Das spürt wohl auch mein Kollege Bosbach. Aber das ist eine Herausforderung, die diese Koalition logischerweise mit sich bringt. Dennoch sollten wir nüchtern zur Kenntnis nehmen, dass die Menschen uns an dem messen, was wichtig ist.

ABENDBLATT: Und das wäre?

KOCH: Nimmt die Arbeitslosigkeit zu oder ab? Kommen die Haushalte in Ordnung oder nicht? Tun wir etwas für Forschung oder tun wir es nicht? Schaffen wir es, wirtschaftlich wieder Nummer 1 in Europa zu werden oder nicht? Ich bin davon überzeugt, dass sich am Ende dieser Koalition zeigen wird, dass sich die Dinge in eine deutlich bessere Richtung bewegt haben.

ABENDBLATT: Was macht Sie so sicher, dass der Bürger das genauso sieht?

KOCH: Wir haben ein Jahrzehnt hinter uns, in dem sich die Bürger langsam daran gewöhnt hatten, dass sich die Dinge entgegen den Versprechungen der Politik in die falsche Richtung bewegt haben. Angela Merkels Regierung wird eine sein, bei dem der Bürger erstmals wieder erfährt, dass die vorsichtigen Erwartungen, die sie erweckt - die Politik der kleinen Schritte -, sich mit der Realität decken werden. Und das wird die Zustimmung zu den Parteien und der Demokratie wieder erhöhen.

ABENDBLATT: Vom griechischen Philosophen Plato stammt der Satz, dass diejenigen, die zu klug sind, sich in der Politik zu engagieren, dadurch bestraft werden, dass sie von Leuten regiert werden, die dümmer sind als sie selbst. Wie bewerten Sie diesen Satz?

KOCH: Betrachten Sie ihn als eine Werbung für den demokratischen Prozess.