Kurz vor der Wende besuchte das Kanzlerehepaar inoffiziell die DDR. Mehrfach gelang es Kohl, den Hunderten Bewachern, die ihm folgten, zu entwischen.

Privat war wenig in der DDR. Kilometerlange Akten der Staatssicherheit zeugen noch heute von der Akribie, mit der der Staat versuchte, jeden Schritt seiner Bürger auszuspionieren. Und dennoch gelang ausgerecht dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl noch eineinhalb Jahre vor der Wende eine Privatreise durch die DDR, bei der er mehrfach seinen Hunderten von Stasi-Schatten entwischte.

Kohl traf keine DDR-Politiker, stattdessen suchte er das Gespräch mit den Menschen auf der Straße, verglich in den Kaufhäusern die Preise und erlebte auf einem Stehplatz das Fußballspiel Dynamo Dresden gegen FC Carl Zeiss Jena der DDR-Oberliga.

Dies sei eine der "bewegendsten Reisen, die meine Frau Hannelore und ich in unserem Leben unternommen haben", gewesen, schrieb er später. Eine Reise allerdings, über die wenig bekannt wurde. Erst jetzt haben die beiden MDR-Journalisten Jan Schönfelder und Rainer Erices die geheimen Tage in der DDR mithilfe von Augenzeugen und Stasi-Protokollen nachgezeichnet.

Es war Erich Honecker selbst, der Kohl zu einem Besuch einlud, hingerissen vom Überschwang seines kleines Triumphes, im September 1987 von Kohl in der Bundesrepublik mit fast allen protokollarischen Ehren empfangen worden zu sein. Doch Kohl stellte Bedingungen, die die DDR-Oberen ins Schwitzen brachte: Er wollte seine Reise-Route selbst wählen und weder Journalisten noch Politiker oder Sicherheitskräfte der DDR sehen.

Alles, was dem Ministerium für Staatssicherheit bekannt war, als Kohl mit seiner Frau Hannelore, Sohn Peter, Regierungssprecher Friedhelm Ost, Wolfgang Bergsdorf aus dem Bundespresseamt und seinem Fahrer Eckhard Seeber in zwei Wagen am 27. Mai 1988 den Grenzübergang Wartha-Herleshausen überquerte, waren die beiden fest gebuchten Übernachtungen in Weimar und Dresden. Ansonsten, so sagt Kohl, hatte er keinen Plan. Den aber hatten die DDR-Sicherheitskräfte irgendwie. Sie sollten den Gast ohne Aufsehen begleiten und spontane Sympathie-Kundgebungen verhindern. Getarnte Stasi-Mitarbeiter sollten sich mit ihren Familien um die Kohls scharen. Ausreisewilligen wurden Einschüchterungsbesuche abgestattet.

Doch schon bei Kohls erster Station in Gotha stieß der DDR-Überwachungsstaat an seine Grenzen. Statt ins Museum zu gehen, stellte Kohl sich an einer Eisbude an, sofort umringt von 25 bis 30 Menschen. 15 Minuten war Kohl verschwunden.

Überraschung im Priesterseminar

Die Gothaer Polizei hatte nämlich die beiden Autokennzeichen nicht erhalten und konnte den Kanzler aus der Schar der anderen Westautos nicht herausfiltern. Bei seinem nächsten Stopp in Erfurt setzte sich Kohl noch länger ab. Im Dom St.Marien ließ er sich vom Fremdenführer Walter Zieschang durch einen versteckten Kreuzgang ins Priesterseminar führen. Etwa eine Stunde diskutierte der Kanzler unbelauscht mit 60 bis 70 Studenten, die den Besuch gar nicht fassen konnten.

In Weimar war man vorbereitet auf Kohl. Allein 54 Stasi-Mitarbeiter sicherten als Besucher getarnt den Friedhof mit der Goethe- Schiller-Gruft. 100 standen als Reserve bereit. Doch Kohl schlenderte lieber durch die Stadt. Unerwartet tauchte in einem Park, der an sein Hotel grenzte, eine Gruppe von 18 Joggern auf - Ausreisewillige. Sofort setzte die Staatssicherheit die "Jogger-Gruppe der Abt. XX" in Bewegung, um mitzulaufen.

Trotz aller Bemühungen der DDR-Sicherheitsbehörden, Kohl von den Bürgern fernzuhalten, reiste er nach drei Tagen mit 130 zugesteckten Ausreisewünschen wieder aus, um die er sich kümmerte. "Sie sprachen uns ohne Scheu an und zeigten ganz offen ihre Sympathie", zog er später erfreut Bilanz über seine Begegnung mit DDR-Bürgern Doch auch Honecker, der die Überwachungsberichte offenbar genau las, war zufrieden. Er dankte seinen Mitarbeitern, "dass Provokationen bzw. Störungen durch das abgestimmte und tschekistisch (geheimdienstlich, d. Red.) kluge Vorgehen vorbeugend verhin- dert" worden seien. Ihm hatte man berichtet, Kohl sei oft gar nicht erkannt worden und habe sich selbst zum Gespräch aufdrängen müssen.

Infos: "Westbesuch. Die geheime DDR-Reise von Helmut Kohl", Jan Schönfelder und Rainer Erices, Verlag Dr. Bussert&Stadeler, S. 112, 14,90 Euro)