Ansichtssache

Was hätte wohl Heinrich Böll gesagt, hätte er noch erfahren müssen, dass sein Freund Günter Grass Mitglied der Waffen-SS war? Hätte er ihn in Schutz genommen? Oder ihn verdammt? Die Aufregung über das späte Geständnis des Dichters, der wie kaum ein anderer die "Moralkeule" gegen deutsche Geschichtsvergessenheit im Zusammenhang mit den Verbrechen der Nazi-Diktatur geschwungen hat, ist verständlich. Wird dieses Geständnis nun dem Lebenswerk des Nobelpreisträgers auch abträglich sein?

Das literarische Erbe von Günter Grass wird auch künftig nicht zur Disposition stehen. Daran kann es keinen Zweifel geben, auch wenn vermutet werden darf, dass Grass niemals den Nobelpreis erhalten hätte, wenn das Osloer Komitee von diesem Teil der Biografie gewusst hätte. Martin Walser, der wegen seines Satzes über die Instrumentalisierung der Holocaust-Geschichte als Moralkeule einst selber kritisiert wurde, weiß, wovon er spricht. Er sieht die "Causa Grass" als ein neues Beispiel dafür, wie mit einem "normierten Denk- und Sprachgebrauch" die Bewältigung von Geschichte erschwert wird.

Aber wie steht es um die Glaubwürdigkeit des politischen Künstlers, des selbsternannten Praeceptor Germaniae?

Vielleicht eröffnet ein Blick auf den Schaffensweg von Grass eine Antwort. Vielleicht, eine These nur, haben auch die Zeitläufe dem Dichter das unerwartete Bekenntnis leichter gemacht. Grass, auch das gehört zu seiner Biografie, hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass auch er sich als Jugendlicher hat verführen und blenden lassen. Erst nach Kriegsende ließ er sich davon überzeugen, dass er freiwillig einem verbrecherischen Regime gedient hatte. Wie Grass lebten damals in Deutschland Millionen mit einem Gefühl von Schuld und Schande - für den Schriftsteller das große Thema seines Lebens. Aber wie es aufarbeiten, gar die Vergangenheit "bewältigen", ein Begriff übrigens, den Grass für wenig tauglich hält?

Günter Grass hat mit seinem literarischen und politischen Einsatz vieles dazu beigetragen, diesen Prozess zu beflügeln. Und er hat in jüngerer Zeit geradezu systematisch die Diskussion über einen erweiterten Blick auf die deutsche Geschichte durch ganz unerwartete Beiträge mit belebt.

Nicht erst seit der Fußball-WM, wo er die schwarz-rot-goldene Begeisterung und den ausgelassenen Patriotismus teilte, die er in früheren Jahren als "rechtes Unwesen" verurteilt hätte. Auch in einem Gespräch mit dem Vorstandschef der Axel Springer AG, Mathias Döpfner, fand Grass selbstkritische Worte zum Umgang mit dem konservativen Verlagshaus, das einst zu den Lieblingsfeinden der linken Intelligenz gehörte.

Und schon mit seiner Novelle über die Versenkung der "Wilhelm Gustloff" am 30. Januar 1945, bei der fast 9000 Menschen den Tod fanden, hatte Grass sich vor vier Jahren eines Themas angenommen, das jahrzehntelang tabuisiert worden war. "Im Krebsgang" beschreibt er das Leid der deutschen Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg. Was früher Revanchismus gewesen wäre, erhielt fast sechs Jahrzehnte nach Ende des Krieges eine neue Bewertung. Niemals, so Grass damals, hätte man über so viel Leid schweigen dürfen, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue vordringlich gewesen sei.

In seinem Geständnis-Interview mit der FAZ hebt Grass nun lobend hervor, dass die Deutschen gelernt hätten, mit der NS-Vergangenheit zu leben und sich ihr zu stellen. Das klingt wie eine Aufforderung auch an ihn selber. Darüber zu reden, solange es noch Zeit ist, hat schon vielen Menschen geholfen, mit sich ins Reine zu kommen. Diese zutiefst menschliche Haltung gilt auch für Grass' Verstrickung in die Waffen-SS. Das mag der Lüge, er habe nur als Flakhelfer gedient, nicht die Qualität einer Lüge nehmen, aber sie macht Günter Grass menschlicher.