Braunkohle: Im umstrittenen Revier Garzweiler II hat der Abbau begonnen - und die größte Umsiedlung nach dem Krieg. Die Leute erhalten neue Häuser und manche sogar wieder ihren alten Straßennamen. Doch keiner kann den Otzenrathern den Blick auf ihre Burg ersetzen.

Erkelenz. Das Kirchturmkreuz ist schon weg, das Weihwasserbecken ausgebaut. Aber was wird aus den letzten Gräbern? Allgemeines Schulterzucken. 20 Tote haben die Otzenrather zurückgelassen, als sie in ihr neues Dorf umgezogen sind. Vielleicht wird man ihnen ein Sammelgrab auf dem neuen Friedhof spendieren. Vielleicht auch nicht. In den Nachbarorten denkt man inzwischen viel an den alten Pfarrer zurück. Der pflegte seine Predigten mit den galligen Worten zu beenden: "Herr, gib den Verstorbenen die ewige Ruhe, wenn es Rheinbraun gefällt!"

Otzenrath und Immerath, Spenrath, Berverath und Lützerath, Kuckum und Borschemich, Keyenberg und Pesch, Holz und Holzweiler: Das sind die Orte, die dem Braunkohlebagger weichen müssen. Sie gehören zur Stadt Erkelenz, und deren Bürgermeister erklärt die größte Umsiedlungsaktion der Nachkriegszeit so: "Es ist ein Opfer für den Anspruch der Gesellschaft, Strom zu haben."

Weil Plünderer bei Nacht und Nebel abmontieren, was nicht niet- und nagelfest ist, patroulliert in Otzenrath ein Sicherheitsdienst. Spenrath, Holz und Pesch sind ebenfalls geräumt, nun sind die Borschemicher dran. Mehr als 1000 Jahre haben sie hier gelebt, 898 wurde Brismike, wie es damals hieß, erstmals urkundlich erwähnt, das schöne Wasserschloß zeugt von untergegangenen Rittern und Burgfräuleins.

2007 wollen die Borschemicher das Weihnachtsfest schon in Neu-Borschemich feiern. Im Norden von Erkelenz haben sie sich die alte Straßenführung nachzeichnen lassen, die alten Straßennamen sind auch wieder da, und trotzdem gibt es Krach: Der eine meckert, weil er eine neue Hausnummer kriegt, der andere, weil seine direkten Nachbarn nicht mehr dieselben sind.

Für die Schlichtung solcher Streitereien ist Erwin Mathissen zuständig. Er ist der Beauftragte der Landesregierung für die Umsiedlung. Mathissen hat im zurückliegenden Jahr 224 Hausbesuche gemacht. Er kennt jeden. "Es gibt Leute, die sagen: ,Den Blick auf die Burg kriege ich nie wieder', aber es gibt auch welche, die sagen: ,Das war für mich ein Sechser im Lotto!'"

Und natürlich gibt es Leute, die Angst haben, übervorteilt zu werden. "Keiner weiß, was der andere kriegt", sagt Bürgermeister Peter Jansen dazu trocken, "aber die Gerüchteküche ist in Betrieb." Krisengewinnler sind natürlich auch unterwegs. Einer behauptet, seinen Kirschbaum einst aus Japan nach Borschemich importiert zu haben. Ein anderer veranstaltet mit den Gutachtern Führungen durch seinen "Skulpturengarten". "Was dadrin steht", meint Jansen lächelnd, "kriegen Sie in jedem Baumarkt."

Er hat Verständnis für diese Versuche, wenigstens finanziell etwas aus der Zwangsumsiedlung herauszuschlagen, und benennt gleichzeitig den Unterschied zwischen Garzweiler I und Garzweiler II: "Früher hieß es: ,Sobald der Bagger auf dem Gelände der Kommune ist, kann man sich goldene Klinken kaufen.' Aber das ist vorbei."

Die Stadt Erkelenz wird durch Garzweiler II ein Drittel ihrer Fläche verlieren. Und vielleicht 1500 Einwohner. Insgesamt müssen dem Tagebau 7600 Menschen weichen. Eine abschließende Bilanz wird erst im Jahr 2040 möglich sein, wenn der Bagger in Holzweiler angekommen ist.

Inzwischen nagt das große Loch schon an Otzenrath. Bagger räumen gerade den Damm weg, auf dem mal die A 44 verlaufen ist. Und weil der Braunkohlebagger zur Zeit im Süden steht, sind die Bewohner von Pesch früher geflüchtet als geplant: einerseits wegen des monströsen Geräuschs und dann wegen des gleißenden Lichts, das fast noch schlimmer war als der Krach.

Garzweiler II. 48 Quadratkilometer im Städtedreieck Mönchen-Gladbach, Aachen, Köln. 1,3 Milliarden Tonnen Braunkohle will Deutschlands größter Stromerzeuger RWE Power mit seiner Tochtergesellschaft Rheinbraun hier in den nächsten 40 Jahren fördern. Das Verhältnis zwischen Kohle und Abraummasse liegt bei 1:5. Das heißt, mit dem Abraum von Garzweiler II kann das Loch von Garzweiler I aufgefüllt werden, aber da, wo einst Otzenrath und Immerath, Spenrath und Lützerath, Kuckum und Borschemich, und Spenrath, Keyenberg und Pesch, Holz und Holzweiler waren, bleibt ein 185 Meter tiefes Loch. Das will man mit Wasser vollaufen lassen. "Restsee" heißt so etwas in der Sprache der Geometer. Dieser soll mal so groß sein wie das Steinhuder Meer bei Hannover.

Die Immerather, die nach Kückhoven umziehen wollen, könnten also im Bestfall ein Haus mit Meerblick kriegen. Der Schwiegersohn von Theo und Antonia Küppers ist Bauzeichner. "Der kommt mit immer neuen Plänen", sagt Theo Küppers, aber es klingt nicht gerade begeistert. Seine Frau sagt, daß sie "auf jeden Fall keinen Keller" im neuen Haus haben will und daß sie die Aufregungen satt hat. "Ich will nicht abends damit ins Bett gehen und morgens damit aufstehen."

Theo und Antonia Küppers sagen, daß sie bis zum Januar nicht geglaubt hätten, daß Garzweiler II tatsächlich kommt. "Das war ganz weit weg." Sicher, es seien immer mal wieder neue Bohrungen gemacht worden, aber dem hätten sie keine Bedeutung zugemessen. "Die die ersten Bohrungen gemacht haben, sind doch schon tot!" Beim ersten Spatenstich für Neu-Immerath in Kückhoven haben die beiden begriffen, daß sie ihr Zuhause verlieren werden. Daß der aus Köln angereiste Staatssekretär seine Ansprache mit dem blumigen Satz garnierte: "Für die Sache der Energieversorgung müssen die Bürger von Immerath weichen", finden sie heute noch empörend. "Das hat sich ja angehört, als wären wir Märtyrer!"

Theo und Antonia Küppers haben vor 32 Jahren in Immerath gebaut. Die 66jährige stößt ihren Mann an: "Du mußt jetzt aber mal sagen, daß du bei Rheinbraun gearbeitet hast!" Er nickt, und an seiner Miene kann man das ganze Dilemma ablesen: Einerseits zahlt ihm Rheinbraun die schöne Rente, andererseits zieht ihm der alte Arbeitgeber den Boden unter den Füßen weg. Da wird es schwierig mit dem Protest.

An den Ortseingängen stehen noch die roten Schilder: "Ja zur Heimat. Stopp Rheinbraun. Wir bleiben hier!" Im Lauf der Jahre sind sie verblaßt, und überhaupt protestiert hier nur noch einer: Stephan Pütz aus Immerath. Er ist der letzte Kläger und hat vor dem Bundesverwaltungsgericht gerade einen späten Sieg errungen: Private Grundstückbesitzer, so die Richter am 29. Juni, können in Zukunft bereits gegen den sogenannten Rahmenbetriebsplan klagen und nicht erst, wenn der Bagger quasi schon vorm Gartenzaun steht. Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, der Pütz bei seinem Gang durch die Instanzen unterstützte, sprach von einem "historischen Ereignis". Wohl wissend, daß das Leipziger Urteil Garzweiler II nicht mehr verhindern wird, auch wenn das Bundesverwaltungsgericht den Fall noch einmal ans Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen hat.

"Vor vier, fünf Jahren", sagt Bürgermeister Jansen, "haben wir hier noch gesagt: ,Wir sind im Widerstand.'" Die Verhandlungen mit RWE Power beschreibt der 47jährige als "absolut fair und sachlich". Jansen selbst gehört der CDU an, legt aber größten Wert auf die Feststellung, daß alles, was Garzweiler II anbetrifft, in Erkelenz parteiübergreifend beraten und entschieden wird. Nur auf die Grünen ist er schlecht zu sprechen: "Die enthalten sich bei jeder Entscheidung der Stimme." Dabei sei es doch die grüne Landesumweltministerin Bärbel Höhn gewesen, die im Oktober 1998 ihre Unterschrift unter die entscheidende Genehmigung gesetzt habe! Peter Jansen ist dafür, "das Ding jetzt schnell über die Bühne zu ziehen". Die Stadt Erkelenz, sagt er, habe alle Prozesse geführt und alle verloren. "Es ist Zeit, nach vorn zu schauen."

Die Notwendigkeit, nach vorn zu schauen, wird zwischen Borschemich und Immerath an jeder Ecke beschworen. Der einzige, der dabei nicht mitmachen will, ist Günter Salentin. Unermüdlich warnt der katholische Pfarrer vor den psychischen Folgen der Umsiedlung: "In all dem Gerede von der Sozialverträglichkeit wird doch gar nicht berücksichtigt, daß es um Dinge des Herzens geht!" Salentin spricht von Lügen und von Vertreibung und davon, daß sich die Umsiedler etwas vormachen, wenn sie glauben, daß am neuen Ort alles so sein wird wie am alten: "Es sind Neubaugebiete wie alle anderen." Salentin empfiehlt allen Schönrednern, einen Blick auf die Königshovener zu werfen. Die mußten in den Siebzigern Garzweiler I weichen und haben vor zwei Jahren an der inzwischen wiederaufgefüllten und für die Landwirtschaft rekultivierten Stelle, an der einst ihre Pfarrkirche stand, eine Kapelle gebaut. Aus Heimweh. Mitten in den Feldern. "Diese Kapelle", sagt Pfarrer Salentin betroffen, "ist völlig sinnlos."