Joschka Fischer: Ein Briefwechsel zeigt, daß der Minister sehr wohl schon früh auf möglichen Mißbrauch aufmerksam gemacht wurde.

Berlin. In der Visa-Affäre agieren die Sprecher von Bundesregierung und Ministerien jetzt offenbar mit Maulkorb.

Vor der Befragung der zuständigen Minister im Untersuchungsausschuß wollen sie zum Visa-Mißbrauch keine näheren Auskünfte in der Öffentlichkeit geben. Der Sprecher von Bundesaußenminister Joschka Fischer (Grüne), Walter Lindner, verweigerte gestern vor der Bundespressekonferenz Informationen über den Zeitpunkt, wann der Minister über den massenhaften Visa-Mißbrauch unterrichtet wurde. Fischer wolle sich nach Aktendurchsicht vor dem Ausschuß äußern, sagte Lindner.

Auch Rainer Lingenthal, Sprecher des Innenministeriums, gab keine Auskunft darüber, ob und ab wann Minister Otto Schily (SPD) zu dem Thema Kontakt zum Außenminister gesucht hatte. Er verwies auf einen Vorrang des Verfassungsorgans Bundestag gegenüber dem Auskunftsinteresse der Öffentlichkeit.

Doch derweil sickern immer mehr Informationen an die Öffentlichkeit. Bereits Ende März 2000, wenige Wochen nach Inkrafttreten des von Fischer unterzeichneten Volmer-Erlasses wurde der Außenminister aus Bundesländern vor möglichem Mißbrauch der Visa-Politik gewarnt. Bayerns Innenminister Günther Beckstein (CSU) wurde ebenso schriftlich bei Fischer vorstellig wie sein Amtskollege Thomas Schäuble (CDU) aus Baden-Württemberg.

Fischer wies die Bedenken zurück und schrieb am 18. April 2000 in einem Brief an Schäuble, der dem Abendblatt vorliegt, unter anderem: "Ziel der Bundesregierung ist ein weltoffenes, ausländer- und integrationsfreundliches Deutschland. Ziel der Visum-Praxis muß es sein, so viel Reisefreiheit wie möglich zu gewährleisten und gleichzeitig eine Umgehung der Einreisebestimmungen zu verhindern." Es kam aber in der Folgezeit massenhaft zu Visa-Mißbrauch besonders in der Ukraine durch kriminelle Schleuser.

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Reinhard Grindel, Mitglied im Visa-Untersuchungsausschuß, sagte dem Abendblatt, wenn Fischer etwa durch mehrere Landesinnenminister schon so frühzeitig derart präzise Warnungen bekommen habe, sei es "schlichtweg fahrlässig gewesen, wenn er die Probleme aus dem Blick verloren hat". Zudem werde Fischer zunehmend unglaubwürdig, "weil immer wieder Papiere auftauchen, aus denen sich ableiten läßt, daß er früher informiert worden ist und ziemlich präzise gewußt haben muß, was Sache ist".

Unterdessen dringt die Opposition in der Visa-Affäre auf Klärung einer eventuellen Mitverantwortung von Bundeskanzler Gerhard Schröder und Innenminister Schily (beide SPD). CDU-Chefin Angela Merkel schloß sich indirekt den Forderungen nach einem Rücktritt von Außenminister Joschka Fischer (Grüne) an und verlangte gestern dessen zügige Vernehmung im Visa-Untersuchungsausschuß. FDP-Chef Guido Westerwelle forderte die Vernehmung Schröders. CSU-Chef Edmund Stoiber warnte dagegen vor übereilten Rücktrittsforderungen an die Adresse Fischers. Der Untersuchungsausschuß tritt heute zu seiner ersten Arbeitssitzung zusammen.

Fischer wurde nach Darstellung seines Amtes über wesentliche Mißstände an der deutschen Botschaft in Kiew (Ukraine) möglicherweise erst verspätet informiert.

Außenamtssprecher Walter Lindner bejahte die Frage, ob es unwahrscheinlich sei, daß Fischer eine entsprechende Vorlage für seine Staatssekretäre von Ende August 2002 gesehen habe.

Laut Medienberichten war die Vorlage aber auch an das Ministerbüro Fischers adressiert. Es sei aber "äußerst unwahrscheinlich, daß Fischer dieses Dokument gesehen hat", sagte Lindner der Zeitung "Die Welt".