Biografie: Ein neues Buch beweist, wie der frühere Kommunist und spätere SPD-Politiker in Moskau Genossen dem Stalinschen Terror auslieferte.

Berlin. Herbert Wehner gehört zu den umstrittensten Politikern in der Geschichte der Bundesrepublik. Nur er wirkte sowohl in der Führung der KPD als auch in der der SPD. Zu seiner erfolgreichen Karriere, die in Hamburg begann und die ihn später zum "Zuchtmeister" der SPD-Fraktion im Bundestag werden ließ, gehört aber auch eine Zeit voller dunkler Schatten.

Über sie hat Wehner in seinen "Notizen" geschrieben und dabei ein Bild von seiner Zeit in der KPD und in Moskau gemalt, das er als "Gratwanderung" bei den Überlebensintrigen unter den Funktionären in den Jahren des Großen Terrors unter Stalin bezeichnete. Dieses Selbstbildnis ist genauso unvollkommen wie jenes, das die deutschen und sowjetischen Kommunisten über Kurt Funk alias Herbert Wehner veröffentlichten.

Mit drei Büchern über den späteren SPD-Politiker hat der Hamburger Historiker Reinhard Müller vom Institut für Sozialwissenschaft nun seit 1993 Licht in die russischen Jahre Wehners gebracht. Von ihnen ist das hier zu besprechende (Herbert Wehner-Moskau 1937. Hamburger Edition 2004) das brisanteste. Es beruht auf Archivmaterial, das bis 1990 verschlossen war, und zeigt, wie aus der Feinderkundung des KPD-Trotzkismus-Spezialisten Funk ein Liquidationsbefehl für den Stalinschen Geheimdienst NKWD wurde.

Als Wehner 1931/32 zum technischen Sekretär des Zentralkomitees der KPD aufstieg, war Stalin bereits Herr in der KPDSU und sein Rivale Trotzki in der türkischen Verbannung. Der erste Bolschewik, der sich des "Kontaktverbrechens" zu Trotzki schuldig gemacht hatte, war schon erschossen worden, und die ersten Schauprozesse gegen "Schädlinge" wurden durchgeführt. Propagandistisch kämpfte die KPD auf der Straße für Sowjetdeutschland gegen "National- und Sozialfaschisten".

In ihrem hauptamtlichen Apparat gab es aber eine ganz andere Prioritätensetzung: Hier stand die "Säuberung" von Anhängern der von den Stalinisten in Russland geschlagenen innerparteilichen Gegner auf der Tagesordnung. Die KPD wurde von "Trotzkisten", "Rechten" und "Versöhnlern" gereinigt, wie es in der Parteisprache hieß. Der dem KPD-Vorsitzenden Thälmann unterstehende illegale Nachrichtenapparat der Partei überwachte ihr Funktionärskorps und lieferte das Material für die Ausschlüsse und Entehrungen.

Wehner war in dieser Parteisäuberung bereits aktiv involviert. Nach Hitlers Sieg bewährte er sich als einer der illegalen Leiter der KPD im Land. 1935 legte er in Moskau eine Übersicht über das Schicksal von Funktionären der KPD vor, die seit 1933 illegal tätig gewesen waren. Die Liste umfasste mehr als 500 Namen. Im Zusammenhang mit der Volksfrontpolitik beauftragte die KPD Wehner, einen Bericht über die "Sozialistische Arbeiterpartei" (SAP), der zu dieser Zeit Willy Brandt angehörte, zu verfassen. Schon im Vorfeld des ersten Moskauer Schauprozesses vom August 1936 ging es um die "Entlarvung" der Trotzkisten in der SAP. Der Schauprozess spaltete die antifaschistische Emigration, führende Sozialdemokraten und Gewerkschafter im Exil verurteilten die Morde an den alten russischen sozialistischen Revolutionären.

Dagegen verhielt Wehner sich linientreu. Gegenüber den SAP-Politikern Jakob Walcher und Paul Frölich - beide Mitbegründer der KPD 1918 - stellt er klar, dass die KPD im Zusammenhang mit dem Prozess keinen Angriff auf die Sowjetunion dulden würde. "Für euch ist der Trotzkismus ein Teil der Arbeiterbewegung. Für uns eine Verbrecherbande. Ihr habt in allen Fragen trotzkistische Auffassungen."

Zurück in Moskau wurde er sofort in die Kampagne der KI zum zweiten Schauprozess gegen das "sowjetfeindliche trotzkistische Parallelzentrum" einbezogen, der Ende Januar 1937 stattfand. Wehner lieferte für den stellvertretenden Vorsitzenden der KI, Palmiro Togliatti, der zugleich Vorsitzender der KP Italiens war, einen Bericht "Zur Untersuchung der trotzkistischen Wühlarbeit in der deutschen antifaschistischen Bewegung".

Nicht zuletzt mit diesem Beitrag profilierte sich Wehner zum Trotzkismus-Spezialisten der KPD. Dieser Bericht war unterdessen in eine Direktive des Volkskommissars des Inneren, Jeschow, eingearbeitet worden: "Über die terroristische, Diversions- und Spionagetätigkeit der deutschen Trotzkisten im Auftrage der Gestapo auf dem Territorium der UdSSR".

Der Auftrag für das NKDW war klar, die Kontakte von Angehörigen der nun als "trotzkistische Organisationen" enttarnten deutschen Gruppierungen im westeuropäisch-skandinavischen Exil zu ihren Bekannten in der Sowjetunion waren aufzuspüren und die "Liquidierung" der "terroristischen Agenten" durchzuführen. Die Bilanz dieser Aktion: 70 Prozent von den ca. 3000 deutschen Politimmigranten wurden verhaftet.

Der KPD-Funktionär Wehner hat mit seiner Expertise über die "deutschen Trotzkisten" nach Müllers Urteil den NKWD-Offizieren ermöglicht, "das umfassende Feindbild" der deutschen Trotzkisten überhaupt erst zu konstruieren. Ihre Verfolgung gehörte zu einem Strom von Leid und Blut. Es war die Repression in einem Winkel unter Emigranten, die sich vor Hitlers Verfolgung in Sicherheit wähnten und deren Schicksal bis zum Ende der DDR ein Parteigeheimnis blieb, für das ein Schweigegebot galt.

Wehner hat sich selbst als "Gebrannter" bezeichnet. Durch Müllers Dokumentation wird das Fegefeuer fassbar, in dem der KPD-Funktionär in Moskau lebte. Die von Müller vorgelegten russischen Akten über die Tätigkeit Funks in Moskau verweisen bisherige, nicht zuletzt auf Wehners Selbstzeugnis beruhende historische Urteile, er habe in Moskau "Gratwanderung" vollzogen, um zu überleben, in den Bereich der Legende. Das Buch klärt, was Wehner im Jahr des großen Terrors in Moskau wirklich tat.

* Der Autor ist Professor an der Fachhochschule für Wirtschaft in Berlin und Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat.