Der RAF-Terrorist kommt frei, hat Bundespräsident Rau entschieden. 24 Jahre saß Wagner in Haft, vor allem wegen des Mordes an Hanns-Martin Schleyer. Warum hasste er die “BRD“ so sehr? Und: Bereut er seine Taten?

Berlin. "Du musst nur die Laufrichtung ändern", sagte die Katze zur Maus und fraß sie. Franz Kafka

Rolf Clemens Wagner hat Kafka immer geliebt. Ob seiner Düsternis und Gegnerschaft zur Welt. Zum Literaturstudium konnte sich der Zahnarztsohn Wagner 1964 trotzdem nicht entschließen. Die Vorstellung, als Lehrer zu enden, schien ihm damals das größtmögliche Unglück zu sein. Schließlich studierte er Jura. Auf Druck des Vaters. Wie Kafka . . .

Als Wagner bereits dringend verdächtigt wurde, an der Entführung und Ermordung Hanns-Martin Schleyers im Herbst 1977 beteiligt gewesen zu sein, schrieb ihm ein ehemaliger Klassenkamerad einen offenen Brief, in dem es hieß: "Du quetschtest Dich als graue Maus unter andere graue Mäuse und ließest Inhalte über Dich ergehen, die Dich nicht interessierten."

Wann genau Rolf Clemens Wagner beschloss, keine graue Maus mehr zu sein, beziehungsweise die Richtung zu ändern, weiß bis heute niemand. Fest steht, dass er 1971, als ihn die Universität Frankfurt aus ihren Listen strich, für die Firma Neckermann Reisen arbeitete. "Bester Verkäufer am Telefon" ist er damals gewesen. Die rhetorische Begabung hat ihm die Bewunderung der Belegschaft eingetragen und ist ihm Jahre später zum Verhängnis geworden. Denn im Prozess haben die Neckermann-Kollegen in der Telefonstimme, die die Forderungen der Schleyer-Entführer übermittelt hatte, eindeutig die Stimme von Rolf Clemens Wagner erkannt . . .

Am 5. September 1977 hat die Rote Armee Fraktion, kurz RAF, den Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer in Köln entführt, am 18. Oktober hat sie ihn in ihrem so genannten "Volksgefängnis" erschossen. Wagners Eltern beschrieben ihren flüchtigen Sohn Polizeibeamten gegenüber damals so: Wenn er sich für etwas einsetze, führe er es "fanatisch" durch.

Wagner ist am 13. März 1985 vor dem Düsseldorfer Oberlandesgericht zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden. Der 5. Strafsenat sah es als erwiesen an, dass Wagner und die ebenfalls gefasste Adelheid Schulz die Ermordung Schleyers und vier seiner Begleiter "gewollt" hätten, "um dem Terror und den Verbrechen der RAF-Mörder Glaubwürdigkeit zu verleihen". Der Vorsitzende Richter bezeichnete die beiden Angeklagten in seiner Urteilsbegründung als "fanatische Schwerstkriminelle".

Wagner hat damals keinerlei Reue gezeigt. Im Gegenteil. Während des Indizien-Prozesses, der sich 17 Monate hinzog, hat er mit Adelheid Schulz viel gelacht, und am Ende, als ihm das letzte Wort erteilt wurde, hat er von "faschistischen Justizmaßnahmen" und "SS-Justiz" geredet und angekündigt, er werde sich im Gefängnis "für die nächste Etappe des Krieges" rüsten.

Damals war Rolf Clemens Wagner 40 Jahre alt. Das Foto, das nach der Verhaftung von ihm gemacht wurde, zeigt einen Mann mit hohen Wangenknochen, schmalem Mund und feindseligem Blick. Der Mann ist glatt rasiert. Und so ist die drei Zentimeter lange Narbe, links am Kinn, die Wagner lange mit einem Bart kaschiert hatte, gut zu sehen. Der stille, leicht versponnene Junge, den die Mitschüler aus Bochum in Erinnerung hatten, ist hinter dieser eisernen Maske beim besten Willen nicht mehr zu erkennen.

Im nächsten Sommer wird Wagner 60 Jahre alt. Keiner weiß, wie er heute aussieht. Keiner weiß, was er heute denkt. Ob er sich immer noch "im Geiselstatus" wähnt und glaubt, dass nicht er, sondern "die BRD" die Verantwortung für den Tod Schleyers trägt. Ob er immer noch vor seiner Schuld davonläuft. Auf der Suche nach anderen, die er für sein selbst verschuldetes Scheitern haftbar machen kann.

Diesen Charakterzug hatte ihm der einstige Schulfreund und Kommilitone Klaus Hessler bereits 1978 zugeschrieben. In jenem bereits erwähnten offenen Brief, in dem es hieß: "Du hast diesem Land und seinen Menschen Schaden zugefügt, der sich einer strafrechtlichen Beurteilung entzieht. Du hast das Klima verändert, weil Vertrauen verlorenging. Schon dadurch hast Du Menschen zerstört. Andere sind getötet worden . . . Du versuchtest, den Staat so weit zu bringen, dass er Dir zu Kreuze kroch . . . In der Gruppe fandest Du - blind geworden - einen Sinn, fandest Du Wärme und Brüderlichkeit, konntest Du den Leiden der Einsamkeit entkommen. Im Staat hattest Du den gefunden, den Du für Dein Scheitern bestrafen konntest."

Wagner ist seit dem 19. November 1979 in Haft. An jenem Tag hatte er mit drei Komplizen die Schweizerische Volksbank in der Zürcher Bahnhofstraße überfallen und 548 068,50 Schweizer Franken erbeutet. Er wurde gefasst, stritt aber ab, die tödlichen Schüsse auf eine Passantin abgegeben zu haben. Die Schuld am Tod von Edith Kletzhändler, behauptete Wagner vielmehr vor Gericht, trügen jene, "die im Dienste des Kapitalismus in einer Fußgängerzone das Feuer zu eröffnen haben: Die Bullen!"

Ein Geschworenengericht in Winterthur hat Rolf Clemens Wagner am 26. September 1980 wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Wagner ist damals bis vor das schweizerische Bundesgericht gezogen, um seine Auslieferung zum Schleyer-Prozess nach Deutschland zu verhindern. Vergeblich.

Alles in allem sitzt er seit 24 Jahren. "Bis zum Hals im Beton", wie er vor fünf Jahren aus der Haftanstalt Schwalmbach (Taunus) in einem Brief an die Zeitschrift "Jungle World" schrieb. Dieser Brief, der im Internet zirkuliert, ist quasi das einzige öffentliche Lebenszeichen, das Wagner in all den Jahren von sich gegeben hat. Von Schuld oder Sühne ist darin nichts zu finden. Dafür ist es voll von Bitterkeit über die Weggefährten von einst, die den "bewaffneten Kampf" irgendwann für beendet erklärten.

Aus dem Bundespräsidialamt war Anfang der Woche zu hören, dass Kriterien wie "Reue", "Abkehr" und "Schuldeingeständnis" bei der Entscheidung über einen Gnadenerweis, wie ihn Johannes Rau nun gewährt hat, eine Rolle spielen. Nicht die einzige, aber eine wichtige. Vermutlich hätten die Angehörigen derer, die in Zürich und Köln gestorben sind, gern solche Zeichen bei Wagner gesehen, um der Entscheidung "Gnade vor Recht" zustimmen zu können.