Giftnudel? Drecksack? Übelkrähe! Als solche derben Spitzen im Bundestag fielen, hatte die Politik noch Unterhaltungswert. Heute regiert im Parlament das rhetorische Mittelmaß. Ein neues Buch erinnert jetzt an eine (fast) vergessene Streitkultur.

Hamburg. Es soll eine Zeit gegeben haben, in der Politiker allein durch die Gewalt ihrer Redekunst den Lauf der Geschichte bestimmten. Ein Demosthenes etwa, der im vierten vorchristlichen Jahrhundert zum bedeutendsten Athener Staatsmann aufstieg. Obwohl von Hause aus schwach auf der Brust und lispelnd. Er soll mit einem Stein unter der Zunge gegen die Meeresbrandung angebrüllt haben, bis die körperlichen Nachteile wegtrainiert waren. Den nicht unbedeutenden Rest mussten dann geschliffene Argumente bewirken.

Auch Cato der Ältere ist jedem historisch Interessierten und jedem Lateinschüler bekannt. Vor allem, weil er jede seiner Senatsreden - völlig unabhängig vom eigentlichen Thema - mit den Worten: "Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss", beendete. Was im Jahre 146 vor Christus ja dann auch wunschgemäß eintrat.

So viel Wirkungsmacht war selten. Und so etwas gibt es heute nicht einmal annäherungsweise mehr, lautet eine allenthalben geäußerte Kritik. Einmal davon abgesehen, dass das Aufrufen zum Zerstören fremder Städte bei uns glücklicherweise aus der Mode gekommen ist, mangelte es an Originalität und Beharrlichkeit. Diese Tugenden wären allenfalls zu bestaunen gewesen, als die Republik nach dem Krieg noch jung war, die Politiker dafür aber sehr reif und würdevoll wirkten und gravitätisch daherkamen. Als im Bundestag noch Grundsatzentscheidungen etwa über das Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft, zu Wiederbewaffnung oder Westanbindung zu fällen waren.

Und was hatten die Damen und Herren der frühen Republik nicht für bewegte Biografien: Konrad Adenauer war schon in der Kaiserzeit aktiv, alle anderen hatten zumindest die Nazis überstehen müssen und den Krieg erlebt, ihre ganz persönlichen Lehren daraus gezogen, die sie jetzt mit Leidenschaft und rhetorischen Finessen zu Gehör brachten.

Das war, als der Bundestag noch schwarz-weiß war, aus einer großen Holzkiste mit kleinem Bildschirm in die Wohnzimmer flimmerte und etlichen Menschen - auch jungen - neben der Information als Unterhaltungsprogramm diente. Dabei sah die Holztäfelung des Plenarsaals mit ihren weißen Knöpfen aus, als verstauten die Parlamentarier dahinter ihre Wechselwäsche. Ein üppig dimensionierter grauer Bundesadler hing bedrohlich über dem Präsidium, und befrackte Saaldiener trugen Wasser und Akten würdevoll durch die Gänge.

Trotz dieser bescheidenen Kulisse, der flimmernden Bilder und des für heutige Hi-Fi-verwöhnte Ohren lausigen Tones waren es Lehrstunden in Sachen Demokratie, die da zu bewundern waren, wenn es gelegentlich hoch herging, Ordnungsrufe gegen allzu stürmische Debattierer ausgebracht werden mussten - und nach erfolgter Abstimmung sich die eben noch erbitterten Gegner artig die Hände schüttelten.

Vor allem auch für die Brüder und Schwestern jenseits des Eisernen Vorhangs, die sich aus den eigenen Zeitungen weder objektiv informieren konnten noch spannende Debatten aus dem eigenen Scheinparlament zu sehen bekamen. Dort referierte ein Genosse Generalsekretär und seine eigenen Untergenossen, und die Abgeordneten der Blockparteien hatten dem in unterschiedlichen Varianten zuzustimmen. Volkskammerdebatten waren so beliebt wie Fußpilz und dementsprechend auch selten im TV zu sehen.

In den Siebzigern soll es dann zu einem ersten Druckabfall im Bonner parlamentarischen Kessel gekommen sein. Zwar lieferten sich die alten Haudegen von Strauß über Mischnik bis Wehner noch so manches hitzige Wortgefecht. Aber eigentlich schwamm die mittlerweile saturierte westdeutsche Republik oben auf dem breiten und unendlich langsam wirkenden Malstrom der Geschichte. Fest in der Nato verankert, die Marktwirtschaft angesichts Eigenheim, Auto und Italienurlaub nicht infrage gestellt. Die Welt sauber in West und Ost, Gut und Böse geteilt. Sollte sich hier noch jemals etwas grundlegend ändern? Wollte das überhaupt jemand?

Eine neue Politikergeneration begann heraufzudämmern. Eine, die nicht durch Erfahrungen in Schützengräben und beim Trümmerräumen geprägt war, sondern durch Basisarbeit in Ortsverbänden oder als Assistenten von Abgeordneten. Es war der Beginn der Pofallasierung der Politik, die jene Figuren an die Schaltstellen der Macht beförderte, die eifrig im Hintergrund Wünsche ihrer Oberen befriedigen und Strippen ziehen konnten. Bis sie sich dann irgendwann mehr oder weniger geräuschlos selbst an die Macht taktierten - rhetorische Glanztaten sind dabei nicht erforderlich. Entscheidend ist nur, was hinten dabei herauskam. Der Urvater dieses Politikertypus ist Helmut Kohl.

Die hitzigeren Debatten fanden mittlerweile außerhalb der Parlamente statt. Studentenbewegung, Friedensbewegung, Anti-Atomkraft-Bewegung. Bis auch sie sich in Gestalt der Grünen in den 80ern in die Parlamente bewegten und für Belebung sorgten. Nicht nur rednerisch, auch optisch. Strickende Mütter und bärtige Männer, die das Ergebnis dieser Handarbeiten in Gestalt von Rentierpullovern trugen, bevölkerten die Plenarsäle. Die Republik war lockerer geworden, konfektionell und sprachlich. Und bald größer. Auch die DDR-Bürger wollten endlich an der Rede- und Reisefreiheit teilhaben. Als die Mauer fiel, musste im Hohen Haus auch nicht viel geredet werden - da wurde nur die Hymne gesungen, und das war gut so.

Noch einmal liefen die alten Rhetoren der BRD zu Höchstform auf, als Schmidt, Brandt, Waigel, Blüm, Geißler und Genscher durch die neuen Länder zogen und für Freiheit, Marktwirtschaft - und ihre jeweilige Partei - warben. Mit deren Rückzug in den 90ern wird allgemein der endgültige Niedergang der Debattenkultur im Bundestag angesetzt.

Kann es aber sein, dass in so kurzer Zeit die Lust am Streitgespräch und die entsprechenden Talente verkümmern?

Wohl kaum. Sehr wohl aber sind die Kommunikationswege heute andere. Im Zeitalter des Internets und zahlloser Fernsehsender findet sich kaum noch Publikum, das sich durch eine Parlamentsdebatte unterhalten fühlte. Völlig unabhängig von der Brillanz oder Bösartigkeit der Vortragenden. Wichtige Botschaften werden heutzutage in Talkshows, Zeitungen und Zeitschriften oder in Ansprache per Internet verbreitet. Aber erst nachdem sie von den zuständigen Experten in den Fraktionen und Parteizentralen auf Tauglichkeit und Massenwirksamkeit getrimmt wurden. Eines fulminanten Auftritts im Parlament bedarf es dann nicht mehr, zumal die Parlamentarischen Geschäftsführer und Fraktionsbosse natürlich längst vor der Abstimmung die nötigen Mehrheiten organisiert haben. Das ist ihr Job. Allerdings geht auch das nicht ohne rhetorisches Geschick. Denn nur der Fraktionszwang allein, also jene nachdrückliche Erinnerung an die Partei, die Posten und Diäten erst ermöglicht, überzeugt die laut Grundgesetz allein ihrem Gewissen verpflichteten Abgeordneten auch nicht immer.

Doch die einfühlsame Massage der sensiblen Abgeordnetenseele geschieht meist unsichtbar hinter verschlossenen Türen. Für den öffentlichen Auftritt begnügen sich die meisten Parlamentarier mit rednerischer Standardware. Das fördert nicht unbedingt die Begeisterung für Demokratie und Debattierkunst. Aber nur damit die heutige in Frieden und Wohlstand aufgewachsene Politikergeneration interessantere Lebensläufe bekommt und buntere Geschichten zu erzählen vermag, will schließlich niemand einen neuen Weltkrieg riskieren.

Aus all dem jetztzeitigen agitatorischen Mittelmaß ragt vielleicht noch Guido Westerwelle heraus. Ganz in catoscher Tradition vergisst der Oberliberale bei keiner Rede - egal welchen Inhalts -, am Ende auf Steuersenkungen zu pochen. Vielleicht hat er ja wie sein antikes Vorbild am Ende auch Erfolg, und die Deutschen können sich auf eine Linderung der drückenden Fiskallasten freuen. Allerdings hat selbst der ausdauernde Cato die Früchte seiner Redestrategie nicht mehr selbst ernten dürfen. Er starb mit 84, drei Jahre vor dem Untergang Karthagos. Und Westerwelle ist erst 47!