Diagnosen sollen überprüft werden, um mehr aus dem Gesundheitsfonds zu kassieren.

Berlin. Der Allgemeinmediziner Helmut Anderten traute seinen Augen nicht: Da forderte ihn die AOK Niedersachsen doch auf, eine Reihe seiner Patientendiagnosen noch einmal zu überprüfen. Zehn Euro pro kontrollierter Krankenakte sollte er bekommen. Das fand der Hildesheimer "plump", denn: "Da war dieses Geschmäckle dabei: Für 'nen Zehner macht der Doktor am Tresen eine neue Diagnose." Anderten beschwerte sich und warnte seine Kollegen in einem Rundschreiben. Auch eine niedersächsische Psychiaterin fühlte sich von dem Anliegen der Versicherung belästigt und schickte es an den Ärzteverband NAV-Virchow-Bund. "Lasse mich nicht kaufen!" hatte sie neben das Zehn-Euro-Angebot geschrieben.

Unter Ärztevertretern ist die Empörung groß. Frank Ulrich Montgomery, Vizepräsident der Bundesärztekammer, sagte dem Abendblatt zu diesen Aufforderungen zum "right-coding", wie das geänderte Angeben einer Diagnose genannt wird: "Das ist absolut verwerflich." Mit diesen Tricks schadeten sich die Kassen nur gegenseitig: "Dadurch wird kein Cent mehr ins Gesundheitssystem eingespeist. Bei dieser Art von Wettbewerb zwischen den Kassen wird lediglich Geld rausgeworfen."

Hintergrund der Vorwürfe ist die Einführung des Gesundheitsfonds zum Jahresbeginn. Seither gibt es für die Kassen mehr Geld für solche Patienten, die eine von 80 festgelegten schweren Krankheiten haben. Das Geld entstammt dem sogenannten morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA). Für alle anderen Versicherten erhalten die Kassen einen niedrigeren Satz. Zur Einordnung der jeweiligen Krankheit müssen die Ärzte einen entsprechenden Code angeben.

An dem hapert es nach Einschätzung etwa des AOK-Bundesverbands häufig. Dann müssten etwa für Dialysekranke die erhöhten Behandlungskosten gezahlt werden, die Versicherung bekomme aber nicht den erhöhten Satz aus dem Gesundheitsfonds. In extremen Fällen gingen einer Kasse Tausende Euro pro Patient verloren, klagt der AOK-Sprecher Udo Barske: "Das ist nicht verantwortbar." Entsprechend sei ein "right-coding" wichtig - und habe nichts mit Korruption zu tun. Formal mag das stimmen, so Klaus Greppmeir vom NAV-Virchow-Bund, "aber die Absicht dahinter ist, Patienten kränker zu schreiben, als sie sind". Davor hatte bei der Einführung des Fonds Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) im Abendblatt gewarnt: "Wer leicht Erkrankte zu Schwerkranken degradiert, um Geld dafür zu bekommen, handelt kriminell und gehört vor ein Gericht gestellt." Gegen diesen Betrug werde die Aufsicht vorgehen, also das Bundesversicherungsamt. BVA-Präsident Josef Hecken nannte das Vorgehen der Kassen rechtswidrig: "Ich werde deshalb ein solches Verhalten in meinem Aufsichtsbereich nicht dulden." Doch Heckens Aufsichtsbereich ist auf die großen bundesweiten Kassen wie die Techniker Krankenkasse oder die Barmer beschränkt. Denen wurde bereits schriftlich mitgeteilt, dass sie keine Umkodierung anregen dürfen. Für die AOK sind hingegen die jeweiligen Landessozialministerien zuständig.

In Bayern kursiert ein zwielichtiges Angebot gleich vonseiten der Ärzte. Der Chef des bayerischen Hausärzteverbands, Wolfgang Hoppenthaller, erinnerte seine Kollegen per Brief an den speziellen Behandlungsvertrag mit der AOK. Im Hausarztprogramm bekomme der Arzt 26 Euro zusätzlich für Schwerkranke, was bedeute, so Hoppenthaller: "Jeder Patient, den Sie als RSA-Patienten identifizieren, bringt mehr Honorar."