Für Hannelore Kraft, Sylvia Löhrmann und ihre Parteien hat sich das Wagnis Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen ausgezahlt.

Düsseldorf. Es hatte zahlreiche Anzeichen für einen Wahlsieg der SPD in Nordrhein-Westfalen gegeben. In den Umfragen lagen die Sozialdemokraten seit Mitte März deutlich vor der CDU. Doch Ministerpräsidentin Hannelore Kraft blieb vorsichtig und betonte, dass Stimmungen noch lange keine Stimmen seien. Die Sozialdemokratin gab sogar einmal zu, dass ihre Einschätzungsfähigkeit getrübt ist: "Ich bin wie im Tunnel. Ich habe jetzt kein Gefühl mehr dafür, wie die Stimmungslage allgemein in der Bevölkerung ist", sagte sie dem Westdeutschen Rundfunk. Eine Zweitstimmenkampagne zugunsten der Grünen, bei der Anhänger ihre erste Stimme dem SPD-Direktkandidaten geben und die zweite Parteistimme den Grünen, kam schon gar nicht infrage. Sorgen bereitete ihr, dass nur eine knappe rot-grüne Mehrheit erwartet wurde - der eigene Wahlsieg würde ohne Wunschkoalition getrübt. Diese Sorge zeigte, wie unsicher die alte Regierungspartei SPD geworden war. "Heute ist Landesmuttertag" - diese Losung gaben die Sozialdemokraten deshalb umso eifriger aus.

CDU-Herausforderer Norbert Röttgen hingegen betonte unermüdlich, er befinde sich in einer Aufholjagd, er denke nur an Sieg und nicht an Niederlage. Auf die Frage der "Bild am Sonntag", was er seiner Mutter zum gestrigen Muttertag schenken wolle, antwortete Röttgen: "Dass ihr Sohn Ministerpräsident wird" - obwohl seiner Partei von den Demoskopen das historisch schlechteste Wahlergebnis prognostiziert wurde und eine Große Koalition mit der SPD immer unwahrscheinlicher schien.

+++ NRW-Wahl: Hannelore Kraft demütigt Norbert Röttgen +++

Als gestern die Wahllokale ihre Türen schlossen, hatten sich Krafts Sorgen, aber auch Röttgens Zweckoptimismus nicht bestätigt: Erste Prognosen der Demoskopen sahen die SPD nahe an 40 und die Grünen bei deutlich über zehn Prozent, während die CDU klar unter 30 Prozent lag. Vor zwei Jahren hatten die Christdemokraten noch 34,6 Prozent erreicht. Das war zwar ihr bis dato schlechtestes Resultat, doch hatten sie knapp 6000 Stimmen mehr bekommen als die SPD, die mit 34,5 Prozent ihr schwächstes Ergebnis seit 1950 verbuchte. Beide Volksparteien waren auf einem Tiefpunkt in NRW angelangt. Kraft war damals eine Wahlverliererin, doch das Scheitern der schwarz-gelben Landesregierung unter Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) ließ diesen Makel rasch verblassen. Nun, nach sieben Jahren in der Minderheit, kann die SPD im bevölkerungsreichsten Bundesland erstmals wieder an alte Erfolge anknüpfen und sogar eine stabile rot-grüne Regierungsmehrheit vorweisen, während die CDU tief wie nie gesunken ist und wieder einmal vor dem personellen Umbruch steht. FDP-Spitzenkandidat Christian Lindner wiederum gelang es, seine in Existenznot geratene Partei deutlich über die Fünfprozenthürde in den Landtag zu retten, während die Piraten ohne große Anstrengung ins Parlament kommen.

Diese Landtagswahl bestätigt zugleich eine ungewöhnliche Entwicklung: Vergangene Abstimmungen wurden häufig vom Bundestrend der Parteien bestimmt; man konnte sich dem Berliner Sog kaum entziehen. Doch dieses Mal entkoppelten sich die Landesparteien, im positiven wie im negativen Sinne. Das ist wohl auf die jeweiligen Spitzenkandidaten zurückzuführen und auf deren vorhandene oder eben weniger vorhandene Fähigkeit, einen klaren Kurs glaubwürdig zu propagieren. Der "Kraft-Effekt" hat die NRW-SPD zurück in alte Sphären gebracht, die sie 2005 nach 39-jähriger Regierungszeit abgezehrt verlassen musste, um in der Opposition neu zu beginnen. Der 1999 sichtbar gewordene Niedergang der Sozialdemokratie, als bei den Kommunalwahlen zahlreiche Hochburgen geschleift wurden und die CDU landesweit 50,3 Prozent errang, wurde zumindest gestern gestoppt. Nun liegt die NRW-SPD rund zehn Prozentpunkte über dem Ergebnis der Sozialdemokraten im Bund.

+++ Nur Röttgen hat Schuld an der Niederlage +++

Die Union in NRW wiederum fällt unter die Umfragewerte im Bund. In Röttgens misslungenem Wahlkampf verpuffte sogar der allgemeine Kanzler-Bonus von Angela Merkel. Als sich Röttgen 2010 um den CDU-Landesvorsitz bewarb, konnte er im Mitgliederentscheid noch eine Mehrheit davon überzeugen, dass es ein Vorteil ist, als Bundesumweltminister den größten Landesverband zu führen. Die "Landeslösung" Armin Laschet war unterlegen. Diese Landtagswahl offenbarte allerdings, dass sich Röttgens vermeintliche Vorteile nicht ausgezahlt haben, im Gegenteil. Unmittelbar nach der ersten Prognose erklärte Röttgen folgerichtig seinen Rücktritt als Landesvorsitzender. Als möglicher Nachfolger kommen Laschet, CDU-Fraktionschef Karl-Josef Laumann und CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe in Betracht.

Für die SPD und Kraft hat sich das politische Wagnis ausgezahlt, in den vergangenen 20 Monaten eine Minderheitsregierung zu führen. So schuf sie eine Interimsphase und konnte sich als Regierungschefin, "die sich kümmert", profilieren und dann mit einem Amtsbonus in die vorzeitigen Neuwahlen ziehen. Ihre Fehler schrumpften rasch in der Wahrnehmung, selbst das Etikett "Schuldenkönigin", das ihr die Opposition anheften wollte, konnte sie nicht beschädigen.

Eigentlich haben die Grünen Kraft gerettet. Deren Spitzenkandidatin Sylvia Löhrmann hat vor zwei Jahren mit einem Machtwort die zaudernde SPD-Landeschefin zu einer Minderheitsregierung gedrängt. Die Grünen sahen die Chance zu gestalten und sich zu profilieren - und sie wurden bestätigt. Die Koalition konnte alle ihre zentralen Vorhaben umsetzen, weil die Opposition immer wieder half: Die Studiengebühren wurden abgeschafft, ein Schulkonsens erzielt, ein kommunaler Stärkungspakt geschlossen.

Der Geschäftsführer ihres heimatlichen SPD-Unterbezirks in Mülheim an der Ruhr, Arno Klare, hat das politische Talent der Ministerpräsidentin im "Spiegel" einmal auf den Punkt gebracht: "Hannelore Kraft führt die Situation nicht herbei, doch dann verhält sie sich richtig." Und tatsächlich: Kraft wirkte nicht einmal gescheitert, als die Minderheitsregierung Mitte März am rot-grünen Haushaltsentwurf 2012 zerbrach und an ihrem Unwillen, stärker zu sparen. Nach diesem Wahlsieg im zweiten Anlauf könnte sich Kraft nun in ihrer Haltung bestätigt fühlen, mehr Geld auszugeben, als vorhanden ist. Die Angst vor weiteren Schulden - auch das eine Lehre dieser Wahl - scheint geringer zu sein als die Angst vor einem strikten Konsolidierungskurs.