Der künftige Chef von Chinas kommunistischer Partei KP ist seit Tagen verschwunden. Gerüchte ranken sich um einen Unfall oder einen Anschlag.

Peking/Tianjin. Rätsel um den Mann, der schon bald die 1,3 Milliarden Chinesen anführen soll: Seit zehn Tagen ist Xi Jinping nicht mehr in der Öffentlichkeit gesehen worden. Kanzlerin Angela Merkel war am 31. August die letzte ausländische Besucherin, die den chinesischen "Thronfolger" noch in Peking gesehen hat. Seither hat der 59 Jahre alte Vizepräsident und designierte Parteichef jeden anderen ausländischen Besucher versetzt. Kurzfristig wurde selbst ein Treffen mit US-Außenministerin Hillary Clinton abgesagt. Außenminister Yang Jiechi ermahnte im Beisein Clintons die Pekinger Korrespondenten, keine Gerüchte zu verbreiten. Es sei mit den USA abgesprochen, dass der Vizepräsident Clinton nicht treffen werde. Er hoffe, betonte der Außenminister, dass die "Leute darüber nicht unnötig spekulieren".

"Wo ist Xi Jinping?" ist seitdem eine häufig gestellte Frage im Reich der Kommunistischen Partei. Anfang der Woche hätte er Dänemarks Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt treffen sollen. Doch es erschien - ohne weitere Erklärungen - statt des Vizepräsidenten Chinas Wirtschaftszar Wang Qishan. Von der Absage erfuhren die Dänen erst wenige Stunden zuvor. Wie Thorning-Schmidt wurden am selben Tag auch Singapurs Premierminister Lee Hsien Loong sowie die Vorsitzende des russischen Föderationsrats, Walentina Matwijenko, die alle Treffen mit Xi Jinping haben sollten, ohne weitere Erklärungen versetzt.

Am Rande des Weltwirtschaftsforums gestern in der Stadt Tianjin gab es auch für die internationalen Konzernchefs und die chinesischen Funktionäre kaum eine wichtigere Frage als die nach dem Verbleib des "Kronprinzen". In Pausen wurde über "das Thema" getuschelt. Selbst während der Rede von Ministerpräsident Wen Jiabao lasen Wirtschaftsführer auf ihren Tablet-Computern die Meldungen in westlichen Medien über das rätselhafte Verschwinden. In den Fluren und Sitzecken des Konferenzzentrums wurde ausgiebig spekuliert. "Nein, ich weiß nichts", sagte einer der Teilnehmer. "Ist bestimmt nichts Ernstes", zeigte sich ein ehemaliger hoher Mitarbeiter des Außenministeriums in Peking überzeugt.

Eine in offiziellen Internetportalen veröffentlichte Rede von Xi Jinping auf der Parteischule heizte die Spekulationen eher noch an: "Die Rede ist ja alt", sagte eine chinesische Forums-Teilnehmerin. Sie hatte entdeckt, dass Xi, der auch Direktor der Parteihochschule ist, seine Rede bereits am 1. September zur Begrüßung des neuen Studienjahrgangs gehalten hatte. Es war sein vorerst letzter Auftritt vor der chinesischen Öffentlichkeit.

Das am häufigsten kolportierte Gerücht lautet nun, der künftige chinesische Führer habe eine Rückenverletzung erlitten - entweder beim Schwimmen oder beim Fußballspielen. Oder war es vielleicht doch ein Autounfall? Der Sprecher des Außenministeriums, Hong Lei, sagte auf Fragen ausländischer Journalisten: "Wir haben alles gesagt." Offenbar bezog er sich auf die Mahnung seines Ministers, nicht unnötig zu spekulieren.

Die Geheimniskrämerei facht die Spekulationen aber nur an. In den twitterähnlichen chinesischen Kurzmitteilungsdiensten sperrte die Zensur Suchwörter wie "Xi Jinping" oder "Rückenverletzung". Aber nicht nur der Vizepräsident wird vermisst, auch fehlt weiterhin ein genauer Termin für den nur alle fünf Jahre stattfindenden Parteitag im Oktober. Dort soll der Generationswechsel in der Führung vollzogen und Xi Jinping zum neuen Parteichef gemacht werden. Beim vorangegangenen Parteitag im Jahr 2007 war das Datum bereits Ende August verkündet worden.

Die Kommunistische Partei steckt derzeit aber auch noch mitten in dem größten Skandal ihrer jüngeren Geschichte. Die Affäre um den im März entmachteten Spitzenpolitiker Bo Xilai und seine Ende August wegen Mordes verurteilte Frau Gu Kailai hat das Land und seine Führungsriege erschüttert. An der Oberfläche schien zuletzt trotzdem alles auf einen reibungslosen Machtwechsel zuzulaufen - den ersten seit zehn Jahren. Auffällig aber ist, dass auch He Guoqiang, der Chef der mächtigen Disziplinarkommission der Partei, ebenfalls seit Ende August keine öffentlichen Auftritte mehr absolviert hat.

Das Mitglied im Ständigen Ausschuss des Politbüros, dem mächtigsten Führungsorgan, ist nicht irgendwer: He Guoqiang war es, der gegen den danach gestürzten Politstar Bo Xilai wegen "ernster Verletzung der Disziplin" ermittelte. Da der frühere Parteichef der Metropole Chongqing mit seiner "linken" Politik viele Anhänger hat und auch im Militär bestens verdrahtet ist, blühen nun die Verschwörungstheorien: Xi Jinping sei am Abend vor seinem geplanten Treffen mit Hillary Clinton bei einem Verkehrsunfall verletzt und ins Pekings Prominentenkrankenhaus 301 eingeliefert worden, heißt es. Fast zeitgleich sei auch He Guoqiang Opfer eines Autounfalls geworden. Aus der Unfalltheorie wurden innerhalb von 24 Stunden angebliche Anschläge auf beide Politiker.

Dass Ausländer und die Mehrheit der Chinesen nicht erfahren, was Pekings Führer tun oder lassen, ist völlig normal. Die Methode, den Bambusvorhang zu schließen, stammt aus Zeiten, als China noch eine abgeschottete sozialistische Gesellschaft war. Sie gehört zur anachronistisch gewordenen Gewohnheit einer verschworenen Partei, alles um sich und ihre Führer zur Geheimsache zu erklären.

Und Pekings Führer haben in der Vergangenheit Gerüchte immer wieder ignoriert - bis sie überhandnahmen. Etliche Führer etwa wurden zu Lebzeiten für tot erklärt, von Deng Xiaoping bis Jiang Zemin. Sie tauchten erst wieder auf, als die Aktienkurse fielen.

Premier Wen Jiabao dürfte wissen, wohin Chinas Kronprinz verschwunden ist. Beim Wirtschaftsforum in Tianjin aber lüftete er das Geheimnis um den verschwundenen Xi Jinping nicht.