Ein libyscher Rebell erzählt vom Kampf gegen den Diktator. Hamburger Kliniken versorgen Dutzende Opfer. Die Hilfe verläuft zum Teil abenteuerlich

Hamburg. Es war brütend heiß am Tag, als Saleh Abdelkarim seine Beine verlor. Dicker schwarzer Rauch stand über dem Hafen von Brega, als sei das Öl aus den Pipelines direkt in den Himmel über der umkämpften libyschen Stadt aufgestiegen. Die F-18 und Mirage-Jets der Nato hatten gerade einen Panzer der Truppen von Diktator Muammar al-Gaddafi zerstört, dazu weitere gepanzerte Fahrzeuge und Raketenwerfer. Für die Rebellen wurde der Weg in die Stadt an der südlichsten Ausbuchtung des Mittelmeeres Mitte Juli geradezu frei gebombt. Doch der Tod und tückische Kriegsqualen lauerten vor allem im Boden. "Gaddafis Brigaden verlegen noch mehr Minen", beklagte der Rebellenführer Oberst Ahmed Bosibable in jenen Tagen. "Die Landminen wurden willkürlich und unsystematisch verlegt, damit sie schwerer zu finden sind. Das ist international verboten", fügte er hinzu.

Gaddafi ließ seinen Sprecher Mussa Ibrahim verkünden, die Ölstadt Brega werde um jeden Preis verteidigt. "Wir werden Brega nicht aufgeben, auch wenn das den Tod von Tausenden Rebellen und die Zerstörung der Stadt bedeutet", drohte der Propagandaminister. "Wir werden Brega in die Hölle verwandeln." Das ist auch geschehen.

Gaddafis Sprecher Mussa hat eine Frau aus Hamburg geheiratet.

In der Hansestadt sitzt jetzt der Rebell Saleh Abdelkarim aus der Kleinstadt Al-Abijar in der Asklepios-Klinik St. Georg und erzählt, wie er am 17. Juli in seinem Pick-up mit Maschinengewehr auf der Ladefläche im Umland von Brega nach Minen suchte. Er sollte die Fundstellen markieren. Eine Mine hat er übersehen. Sie ging hoch, der Kleinlaster zerbarst.

Saleh Abdelkarim, 31, Vater von zwei Söhnen und einer Tochter, wurden beide Beine abgerissen. Der linke Arm war gebrochen, der Kiefer, das Jochbein. Im ganzen Körper fanden die Ärzte Splitter. Auf einer Lkw-Ladefläche brachten andere Rebellen den Verletzten nach Bengasi. Von dort kam er in ein tunesisches Krankenhaus. Nach 45 Tagen im Koma wachte er in einem fremden Land auf. An seiner Seite war sein Bruder Farag. Beide entstammen einer Familie, in der der Vater mit zwei Frauen elf Söhne und acht Töchter zeugte.

Farag hatte Zeit, das Englisch-Studium ruht. Wegen des Aufstandes gegen Gaddafi war der Betrieb seiner Uni ausgesetzt. Und außer Revolution, fand er, könne er Sinnvolleres für seinen schwer verletzten Bruder tun. Mehr als zwei Monate sind die Brüder jetzt in Hamburg. Vom neunten Stock der Klinik schauen sie auf die fremde Stadt. "Sie helfen meinem Bruder", sagt Farag. "Aber sein Leben ist zerstört." In Tunesien wurden die Patienten von sogenannten Scouts für den Flug in einer Linienmaschine nach Hamburg ausgewählt. "Wir mussten da auch weg, sonst hätte mein Bruder nicht überlebt", sagt Farag.

Der libysche Übergangsrat hat eine deutsche Firma beauftragt, Verletzte auszufliegen: die Münchner Almeda. Deren Team fand Kliniken in Hamburg, im Rheinland, München und anderswo, in denen die Bürgerkriegsverletzten behandelt werden. Mehrere Hundert sollen inzwischen in Deutschland gewesen sein. Wie viele Libyer zurzeit in Hamburg sind, darüber gibt es keine verlässlichen Zahlen. Aber: Sämtliche Kosten trägt das provisorische Finanzministerium des libyschen Übergangsrats. Die BASF-Tochter Wintershall fördert die Hilfe für die libyschen Kriegsopfer. "Die Zeit drängt und verlangt nach kurzfristigen, pragmatischen Taten. Die Ärzte in Libyen leisten Übermenschliches. Doch ihnen fehlt die technische Ausstattung", sagte Rainer Seele, Vorstandsvorsitzender von Wintershall. Die Öl- und Gasfirma ist nach eigenen Angaben seit 1958 in Libyen aktiv.

Auch der Energieriese RWE unterstützt die Hilfe: "Als großes Unternehmen haben wir die Verantwortung, den Menschen in humanitären Notsituationen zu helfen", sagte der RWE-Vorstandsvorsitzende Jürgen Großmann. Wintershall, das einen 15-prozentigen Anteil an der Gazprom-Tochter Nord Stream hält, sagt offen: Altkanzler Gerhard Schröder (SPD, Nord-Stream-Aktionärsausschuss) hatte die Idee zu der Hilfe der Energieunternehmen. Deutsche Manager hatten Bedenken, dass sie bei Geschäften mit der neuen libyschen Regierung ins Hintertreffen geraten könnten. Die Bundesregierung hatte sich im Frühjahr geweigert, Soldaten oder Flugzeuge für den Nato-Einsatz über Libyen zu entsenden. "Die französischen Kampfjets haben bereits Gaddafis Truppen bombardiert, als die Uno-Resolution einer Flugverbotszone noch gar nicht in Kraft war", behauptet der verletzte Saleh Abdelkarim. Dass den deutschen Firmen jetzt ein Wettbewerbsnachteil entstünde, glaubt bei den Handelskammern nun niemand mehr. Inzwischen ist Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) mit einer Delegation in Libyen gewesen.

Einen Tag vor Weihnachten, zwei Monate nach dem Tod Gaddafis, hat die Bundesregierung die in Deutschland eingefrorenen Gelder freigegeben: rund sieben Milliarden Euro. Saleh Abdelkarim und sein Bruder glauben allerdings, dass sich windige Organisationen und auch Mitarbeiter im Umfeld der Botschaft aus dem großen Topf für die Opfer großzügig bedienen. "Geld scheint da zu sein, das ist kein Problem. Nur durchblicken wir nicht genau, von wem es wohin fließt", sagt Farag Abdelkarim.

Beide Brüder sind in den vergangenen Monaten schwersten körperlichen und seelischen Belastungen ausgesetzt gewesen. "Viele Libyer sind extrem traumatisiert", sagt Johannes Pietschmann, ein Hamburger Chirurg, der für "Ärzte ohne Grenzen" in Misrata Verletzte quasi wie am Fließband operierte. Seine Organisation hatte neben den Ersthelfern viele Psychologen im Einsatzteam in Libyen.

Prof. Karl-Heinz Frosch vom AK St. Georg hofft, dass sein Patient mit Prothesen bald wieder gehen kann. "Er hat schlimmste Wunden und abenteuerliche Keime, die schwierig zu behandeln sind. Manche der Verletzten bei uns sind zehnmal und mehr operiert worden. Aber Saleh kann Mitte Januar vielleicht schon in die Rehabilitation."

Einige der Patienten in Hamburg und Schleswig-Holstein bangen noch um Arm oder Bein. Und der Krankentransport verläuft zum Teil abenteuerlich. So landete am 29. November wie aus heiterem Himmel ein Flugzeug aus Tunis mit 71 Verletzten in Hamburg. Die Kliniken der Stadt wurden nicht informiert, nahmen aber einige Patienten auf. Im Klinikum Bad Bramstedt fanden am Ende 22 Libyer ein Zimmer. Dort hatte Geschäftsführer Jens Ritter nach einem Hilferuf aus der Botschaft einen Krisenstab gebildet. Neuer Botschafter in Deutschland ist Ali el-Kothany, 66, ein Arzt aus Bayern. Der libyschstämmige Mediziner hatte bereits in Heidelberg studiert.

Die Maschine mit den Verletzten an Bord war in der Kommunikation zwischen Bundesinnenministerium, Botschaft und Helfern offensichtlich untergegangen. Nicht einmal der Flughafen war im Bilde. Kein Verantwortlicher kann genau sagen wo alle Bürgerkriegsopfer untergekommen sind.

In Hamburg setzen die Brüder Saleh und Farag Abdelkarim auf einen demokratischen Aufbruch in ihrer Heimat. Auch wenn die Stämme Libyens nach wie vor große Macht ausübten, müsse das Volk nach über 40 Jahren Gaddafi-Herrschaft selbst bestimmen, von wem es regiert werde. Über Diktatur, den Krieg und die Demokratie hätte sich Farag Abdelkarim, 25, gerne mit dem Patienten unterhalten, der kurzzeitig wenige Stockwerke tiefer behandelt wurde. Der 93-Jährige, Kriegsteilnehmer unter "Adolf Nazi" (O-Ton), war wegen einer Thrombose im AK St. Georg. Er heißt Helmut Schmidt.