Bei dem EU-Gipfel in Brüssel will Merkel keine faulen Kompromisse. Sie besteht auf die mit Frankreich geplanten Vertragsänderungen.

Berlin. Heute Abend ist es wieder soweit: In Brüssel treffen sich die 27 Staats- und Regierungschefs Europas, um über die Euro-Schuldenkrise zu beraten. Deutschland und Frankreich machen schon im Vorfeld klar, in Sachen Lösungskonzept die Richtung vorgeben zu wollen. Bundeskanzlerin Angela Merkel will auf ihre Forderung bestehen, die EU-Verträge zu ändern. Zweck: Schuldensünder sollen somit zu einer schärferen Haushaltsdisziplin gezwungen werden können. Streit ist damit programmiert. Vor allem kleinere EU-Länder kündigten bereits an, ein „Diktat“ der beiden Großen nicht akzeptieren zu wollen. Auch der britische Premierminister David Cameron hat harte Verhandlungen angekündigt.

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Unmittelbar vor dem EU-Gipfel fliegt Merkel zu einem Parteitag der europäischen Konservativen nach Marseille. Der Kongress der Europäischen Volkspartei (EVP) steht ebenfalls ganz im Zeichen der Schuldenkrise. Neben Merkel und dem französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy nehmen auch zahlreiche andere europäische Regierungschefs und EU-Spitzenpolitiker an den Treffen teil. Noch vor dem Gipfel blickt die Finanzwelt gespannt nach Frankfurt und London. Zunächst entscheidet die Europäische Zentralbank (EZB) über eine mögliche weitere Zinssenkung. Am Abend veröffentlicht die Europäische Bankenaufsicht EBA die Resultate des jüngsten Banken-Stresstests. Derweil traf US-Finanzminister Timothy Geithner zum Abschluss seiner Europareise in Mailand den italienischen Regierungschef Mario Monti.

Neben einer Senkung des Leitzinses dürfte die EZB nach Meinung vieler Akteure an den Märkten auch langfristige Kredit-Geschäfte für die Banken der Eurozone mit Laufzeiten von zwei oder gar drei Jahren beschließen. Sollten die entsprechenden Beschlüsse in der EZB gefasst werden, könnte das Händlern zufolge dem Euro neuen Auftrieb verleihen. EZB-Präsident Mario Draghi könnte eine neuerliche Zinssenkung vor allem mit neuen Projektionen der Notenbank zu Wachstum und Inflation begründen. Viele Volkswirte gehen davon aus, dass die EZB ihre Wachstumsprognose für 2012, die zurzeit bei 1,3 Prozent liegt, drastisch in die Nähe einer Stagnation reduzieren wird.

Am Abend (18.00 MEZ) legt die europäische Bankenaufsicht EBA in London die Ergebnisse des Banken-Stresstests vor. Gleichzeitig wollen die nationalen Aufseher sowie die Banken individuelle Ergebnisse bekanntgeben. Ermittelt wurde unter anderem, wie viel Geld den Banken fehlt, um auf eine Kernkapitalquote von neun Prozent zu kommen. Bis Ende Juni nächsten Jahres müssen sie diese Quote erreichen. Der Finanzbedarf der Geldinstitute wird auf mehr als 100 Milliarden Euro geschätzt. Merkel und Sarkozy reisen am Abend nach Brüssel, wo der EU-Krisengipfel mit einem Abendessen beginnt. Kurz davor blickt die Finanzwelt mit Spannung zur europäischen Bankenaufsicht EBA in London: Die Aufseher veröffentlichen nach Börsenschluss die Ergebnisse des jüngsten Banken-Stresstests.

Die Bundeskanzlerin wird in Brüssel auf den auch von Frankreich geforderten Änderungen der EU-Verträge bestehen. Es würden beim Gipfel keine faulen Kompromisse gemacht, sagten hohe Regierungsbeamte am Mittwoch in Berlin. Merkel und Sarkozy hatten bereits am Montag die Marschrichtung für den Gipfel vorgegeben. Automatische Sanktionen sollen alle EU-Mitglieder zu einem Stabilitätskurs zwingen. Die deutsch-französischen Vorgaben sind allerdings nicht unumstritten. Kleinere EU-Länder wollen ein „Diktat“ der beiden Großen nicht akzeptieren. Notfalls müsse der Gipfel verlängert werden.

Ein hoher Diplomat betonte, Merkel sei ausdrücklich offen für eine Einigung über die Gruppe der 17 Euro-Staaten hinaus, sozusagen für ein „17 plus“. Es werde keine abgeschottete Eurozone angestrebt. Aber: „Unabdingbar sind die 17“, hieß es mit Blick auf Länder mit der Euro-Währung. In Brüssel wurden die Ankündigungen aus dem Bundeskanzleramt mit Skepsis aufgenommen. Bei der neuen Stabilitätsunion sollten alle 27 Staaten an Bord sein, sagte ein hoher EU-Verantwortlicher.

Zweifel gibt es aber daran, ob Vertragsänderungen mit notwendiger Zustimmung aller 27 EU-Mitgliedstaaten schnell oder überhaupt zu erreichen sind. So warnt Tschechiens Außenminister Karel Schwarzenberg in der Wochenzeitung „Die Zeit“ vor Vertragsänderungen, die Referenden nach sich ziehen könnten. „Wollen wir wirklich in einem Moment, da das Ansehen des europäischen Projekts an einem Tiefpunkt ist, neue Abstimmungen in den einzelnen Ländern wagen? Das finde ich sehr kühn“, sagte er dem Blatt.

Keine langwierigen Prozesse

Auch in diesem Sinne mahnte der Vorsitzende der Eurogruppe, Luxemburgs Regierungschef Jean-Claude Juncker, schnelle Änderungen der EU-Verträge angemahnt. „Die Änderung muss begrenzt sein, sie darf weder eine langwierige Debatte noch langwierige Ratifizierungsprozesse nach sich ziehen“, sagte Juncker der „Süddeutschen Zeitung“ (Donnerstag). Die Änderungen, Hauptthema beim heute beginnenden EU-Gipfel in Brüssel, sollen eine stärkere Kontrolle der Haushaltsdisziplin im Euroraum ermöglichen. Er sei für „ein maximales Einmischen Brüssels“, sagte Juncker, lehnte Kontrollrechte des Europäischen Gerichtshofs, die Deutschland fordert, jedoch ab. Auch künftig sollten Haushaltspläne einzelner Staaten nicht in Brüssel genehmigt werden müssen. Aber: „Sie dürfen mit kritischen Fragen belegt werden bis hin zur Aufforderung, den Haushalt nachzubessern.“

Der Gipfel müsse sich schnell auf Änderungen verständigen, notfalls auch nur im Kreis der 17 Eurostaaten, aber offen für alle. „Es darf nicht passieren, dass sich Großbritannien beispielsweise Sonderregeln für den heimischen Finanzmarkt einräumen ließe oder ein lasches Sozialrecht“, betonte Juncker. Der Eurogruppen-Chef wiederholte in der Zeitung seine Kritik an dem Eindruck, Deutschland fühle sich anderen Ländern moralisch überlegen. Die Deutschen sollten nicht denken, „sie müssten als einzig Tugendhafte immer für die anderen zahlen. So ist es nicht.“

In Berlin hieß es vor dem Gipfel, die Einschätzung, ob es zu einer Einigung aller 27 Mitgliedstaaten komme, sei pessimistischer als noch in der vergangenen Woche. Es bestehe der Eindruck, dass einige Länder und Funktionsträger den Ernst der Lage noch nicht verstanden hätten. Großbritanniens Premierminister David Cameron stellte für den EU-Gipfel harte Verhandlungen in Aussicht. Er werde keine Vertragsänderung unterschreiben, wenn darin keine Klausel zum Schutz der britischen Interessen enthalten sei. Im britischen Unterhaus versicherte Cameron, er werde mit „Bulldoggen-Temperament“ nach Brüssel reisen. „Unsere Kollegen in der EU müssen wissen, dass wir keiner Vertragsänderung zustimmen werden, die unsere Interessen nicht schützt.“

Am Vorabend des Gipfels telefonierte Merkel mit US-Präsident Barack Obama. Dieser habe dabei erneut seine Anerkennung für die Bemühungen der Kanzlerin und anderer Führungspersönlichkeiten um eine Lösung des Schuldenproblems zum Ausdruck gebracht, teilte das Weiße Haus mit. Obama und Merkel seien sich über die Bedeutung einer „dauerhaften und glaubwürdigen Lösung“ einig und wollten ihre enge Zusammenarbeit in diesen Fragen fortsetzen. (abendblatt.de/dpa)