Nach wütenden Streiks und den Beschlüssen des EU-Gipfels wirkt die Lage in Athen friedlich. Aber jeder Tag bringt neue Sorgen in Griechenland.

Die sinkende Sonne lässt den Tempelberg strahlen, den Ort, dessen Namen alle Welt kennt: die Akropolis inmitten von Athen. Sie ist Magnet und Sehnsuchtsort für Touristen aus aller Herren Länder, und zugleich ist sie auch Vergnügungsmeile und Freizeitpark für die Bewohner dieser Stadt. An der Metrostation Thesseion steigt man aus und folgt bergan dem weit geschwungenen, gepflasterten Weg zu den antiken Stätten. Oder man begibt sich geradewegs hinein in das Getümmel der vielen Restaurants, die den nördlichen Rand des historischen Stadtzentrums säumen.

Es sind die Tage nach dem entscheidenden EU-Gipfel. Mit aller Macht wollten die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union den Knoten durchschlagen und die würgenden Schulden für Griechenland lindern, damit das Land eine Perspektive bekommt und ebenso der Euro und die EU. Es war der Gipfel vieler politischer Kraftakte, der Europa vom Ansturm der Kapitalmärkte befreien, der das Vertrauen der Bürger und Finanzanleger in die Politik endlich wieder herstellen sollte.

Genau hier, wo die Welt flaniert und sich an der Eleganz des alten Hellas erfreut, waren einmal die geistigen Grundlagen des heutigen Europa gelegt worden, vor etwa 2500 Jahren. Das neue, das heutige Griechenland ist wirtschaftlich schwer krank. Aber im Epizentrum der größten Krise seit der Gründung der Europäischen Union, an den Hügeln und Hainen rund um die Akropolis, ist davon nichts zu sehen und zu spüren. Sonne und milde Luft um 15 Grad verwöhnen die Menschen mit einem liebevollen Herbst.

Fliegende Händler, Musiker, Maronibrater, Gaukler unterhalten die Spaziergänger. Hunderte Touristen, einzeln, in kleinen oder großen Gruppen, drängen zur Akropolis oder der Agora, dem Marktplatz des vorchristlichen Athens. Im Auge des Orkans ist es friedlich, lautet eine alte Weisheit. So ist es auch hier.

Der Kern der Stadt wirkt auf den ersten Blick so normal wie das Zentrum fast jeder Metropole. Rund um den antiken Bezirk braust der Verkehr. Einheimische und Besucher streben durch Straßen und Gassen. Mancher Betrunkene, Drogensüchtige, Verwirrte sucht Halt im Nichts. Auf das Schaufenster einer Bank hat jemand "Eat The Rich!" gesprayt. Streunende Katzen und Hunde erstöbern das, was ihnen die Menschen lassen.

Zumindest die Innenstadt ist sauber, aufgeräumt und gepflegt - und vor allem noch immer mit großer Geste präsent in Europa. So zeigen es die dunkelblauen Tücher der Europäischen Union. Sie wehen neben der griechischen Nationalflagge auf vielen öffentlichen Gebäuden. In Deutschland ist diese Respektsbezeugung nicht üblich.

Wie fühlt sich die Zahl 160 an, wie 50 und wie 40? Mehr als 160 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung in Griechenland umfassen die Staatsschulden, auf 50 Prozent ihrer Forderungen sollen die ausländischen Gläubiger der öffentlichen Hand in Griechenland verzichten, knapp über 40 Prozent der jungen Leute zwischen 15 und 24 Jahren sind arbeitslos.

Es ist eine Häufung solcher und anderer desaströser Wirtschaftsdaten wie sonst nirgends in der Europäischen Union. Und jeden Tag kommen neue dazu. Erst gestern teilte Eurostat mit, dass die Arbeitslosigkeit unter den griechischen Sparprogrammen immer weiter gestiegen ist: Im Juli waren offiziell 17,6 Prozent der Griechen ohne Job. Die Zahl ist düsterer als die der griechischen Statistik-Behörde Elstat, die eine Quote von 16,5 Prozent angibt. Vor einem Jahr waren es noch zwölf Prozent Arbeitslose gewesen.

Und noch eine Nachricht sorgte gestern für Kopfschütteln: Der größte griechische Rentenfonds hat 2010 bis zu acht Milliarden Euro an Tote überwiesen beziehungsweise an betrügerische Angehörige, berichtet die Tageszeitung "Kathimerini". Erst im August hatte die sozialistische Partei eine Untersuchung eingeleitet, als Pensionsüberweisungen an Tote bekannt wurden. Dabei kam auch heraus, dass bei der Rentenkasse 9000 Rentner über 100 Jahren registriert waren - das würde Griechenland auf wundersame Weise die weltweit höchste Rate an Über-100-Jährigen bescheren. Pallas Athene, die Göttin der Weisheit, würde sich schütteln.

An der Akropolis geraten bleischwere Wirtschaftsdaten und absurde Fehler im Duft von Zuckerwatte und gebratenen Maiskolben in den Hintergrund. Aber die Krise wirkt natürlich auch hier. Aristidis Linardatos, 48, ist kein Statistiker, aber ein erfahrener Kellner, angestellt im Restaurant Gyristroula gleich bei der Metrostation Thesseion in Sichtweite der Akropolis. Seit ein, zwei Jahren, glaubt er, verändere sich bei den Touristen etwas. "Es kommen nach wie vor viele Amerikaner, obwohl es den USA ja wirtschaftlich auch nicht so gut geht", sagt er. "Die Europäer, gerade die Italiener und die Spanier, halten sich zurück. Vielleicht auch deshalb, weil wir unsere Preise zuletzt anheben mussten." Seit September gilt für viele Lebensmittel und auch für Dienstleistungen in der Gastronomie ein um zehn Prozent erhöhter Mehrwertsteuersatz von nun 23 Prozent.

Zwischen fünf und zehn Euro kosten die Gyros-Menüs bei Gyristroula mit einem Getränk zum Essen. 7,70 Euro das Hähnchen-Gyros und 2,90 Euro ein Halbliterglas kaltes Alfa-Bier. Für die Reisekasse eines deutschen Touristen ist das maßvoll, für griechische Normalverdiener eher nicht, denn der Durchschnittslohn liegt weit unter dem deutschen. Trotzdem sitzen viele junge Leute draußen bei Gyristroula im Biergarten und genießen den Abend. "Von den Restaurants hier in der Umgebung sind wir eines der günstigsten", sagt Linardatos, und ein Blick später durch die Speisekarten benachbarter Restaurants bestätigt das.

Es dauert nicht lange und seine Unzufriedenheit über die Lage bricht aus ihm heraus. "Die Politik kürzt die Einkommen im öffentlichen Dienst und erhöht die Steuern an allen Ecken und Enden. Das gibt unserer Wirtschaft gerade jetzt den Rest", glaubt Linardatos. "Die Menschen können weniger kaufen, und die Unternehmen mit ihren Fabriken verlassen das Land. Sie gehen nach Bulgarien oder Mazedonien, wo sie nicht so hohe Abgaben zahlen müssen." Was Linardatos besonders empört: "Wir importieren Obst und Gemüse aus anderen südlichen Ländern und sogar Milch aus Deutschland, obwohl wir das alles bei uns selbst produzieren könnten. Wir müssen bei ganz vielen Dingen neu beginnen", sagt der Kellner.

Über den Tempelberg sinkt die Dunkelheit, die historischen Ruinen werden nun von Scheinwerfern huldvoll bestrahlt. Aus einem Restaurant neben einer kleinen Kapelle tritt eine Festgemeinschaft, gefolgt von einem jungen Brautpaar. Die Damen suchen auf ihren Stöckelschuhen vorsichtig den Weg über antikes Pflaster zu ihren Autos und Taxis, die frisch Vermählten und ihre Gäste wirken glücklich und zufrieden in dieser milden Nacht.

Auf der anderen Seite des weitläufigen Areals, in der Straße Leokoriou, stehen zwei Müllcontainer und quellen über vom Inhalt des Wochenendes. Ein älterer Mann mit blauer Wollmütze und Parka wirft einen langen prüfenden Blick darauf. Genau in der Flucht am Ende der Straße, oberhalb der Dächer, leuchten die Säulen der Akropolis und geben dem Augenblick die Würde, die ihm gebührt.