Das Abendblatt sprach mit dem Nahost-Experten Dr. Michael Lüders über das Wahlergebnis.

Hamburger Abendblatt: Tunesien hat demokratisch gewählt, trotzdem gibt es beunruhigende Nachrichten: Islamisten machen massiv Front gegen laizistische Künstler, gegen das Verbot des Gesichtsschleiers an der Universität. Ist die tunesische Gesellschaft gespalten?

Michael Lüders: Es gibt ein Paradox zu beobachten: Die tunesische wie die arabischen Revolutionen hatten nichts mit dem Islam zu tun. Nun sind bei den Wahlen in Tunesien die Islamisten als Sieger hervorgegangen. Aber nicht, weil sich die meisten Tunesier nach einem Gottesstaat sehnen. Sondern weil die islamistische Ennahdha-Partei die einzige Partei ist, die trotz der Diktatur seit Jahrzehnten in der tunesischen Gesellschaft verankert war, wenn auch im Untergrund. Sie hat über Jahrzehnte soziale Dienste geleistet und vielen eine Existenzgrundlage verschafft. Die säkularen, linken und liberalen Parteien haben Rückhalt vor allem in den großen Städten, bei den Intellektuellen und Bessergestellten. Es wird Zeit brauchen, bis die beiden Pole - das liberale säkulare und das islamische ländliche Tunesien - sich annähern.

Für welche Art Islam steht denn die Ennahdha?

Lüders: Wir müssen die Bilder in unseren Köpfen richtig sortieren. Wir im Westen glauben häufig, wenn Islamisten die Macht erringen, dann riecht es nach Khomeinis Gottesstaat. Diesen Weg wird Tunesien aber nicht gehen. Die Ennahdha-Partei ist eine gemäßigte islamische Partei, die ihr Vorbild ausdrücklich in der türkischen AKP von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sieht und nicht im Iran oder in Saudi-Arabien. Außerdem ist es sinnvoll, dass die Islamisten auch einmal an der Macht beteiligt werden, denn das wird helfen, sie zu entzaubern.

Tunesien galt als das Maghreb-Land, in dem die Frauen mehr Rechte hatten als in den anderen. Das sehen viele Tunesierinnen gefährdet.

Lüders: Diese Besorgnis ist verständlich. Es ist auch inakzeptabel, dass diejenigen bedroht werden, die einen Film wie "Persepolis" zeigen. Aber das spielt unter all den Problemen, die Tunesien hat, eher am Rand eine Rolle. Ich glaube nicht, dass da ein Gottesstaat droht und alle Freiheitsrechte abgeschafft werden, weil die Tunesier sich nicht von einer Diktatur befreit haben, um nun vom Regen in die Traufe zu geraten.

Woran wird die Ennahdha-Partei gemessen werden, wenn sie regiert?

Lüders: Wenn sie auf die Idee kommen sollte, statt einer funktionierenden Wirtschaftspolitik eine Symbolpolitik gegen die Intellektuellen oder die Meinungsfreiheit zu betreiben, dann wird sie sehr schnell ihren Nimbus verlieren. Sie ist ja gewählt worden, weil sie eine lange Geschichte hat und über gewachsene Strukturen verfügt. Alle anderen Parteien, die sich erst in den vergangenen Monaten gebildet haben, kennt man nicht. Und das Milieu der Facebook-Generation, die die Revolution vorangetrieben hat, ist nicht identisch mit der Wählerschaft auf dem flachen Land. Die entscheidende Herausforderung für Ennahdha wird sein, das Land wirtschaftlich zu entwickeln und Arbeitsplätze zu schaffen, vor allem für die enorm große junge Generation.

Hat die Partei unter Raschid Ghannouchi dafür denn ein Konzept? Experten bezweifeln das.

Lüders: Das muss man abwarten. Die Handlungsmöglichkeiten einer neuen Regierung sind begrenzt, weil die finanziellen Ressourcen sehr begrenzt sind. Gleichzeitig ist die alte Machtelite hinter den Kulissen immer noch da. Seilschaften und Gefolgsleute von Ben Ali werden alles dafür tun, um Sand ins Getriebe zu streuen.