“Occupy Wall Street“: Am Sonnabend wollen Kapitalismuskritiker weltweit auf die Straße gehen. Ihre Vorbilder halten einen Park an der Wall Street besetzt.

Hamburg. Es geht ihm ums Gefühl. "In der Gruppe fühle ich mich ganz stark geborgen", sagt Thomas Andreas Heitz. Der 43-Jährige mit den gegelten schwarzen Locken und dem dunklen Dreitagebart lächelt, er fühlt sich nun als Teil von etwas Größerem. Sein grobe schwarze Lederjacke hat er über den Stuhl gehängt, jetzt schiebt er sich die Ärmel des grünen Wollpullovers hoch. Drei bunte Armbändchen von Elektromusik-Festivals werden sichtbar. Früher habe er sich oft so hilflos gefühlt, sagt Heitz. Im Internet hatte er gelesen, wie Menschen in armen Ländern verdursten und verhungern, weil die Industrienationen Wasser und Boden für ihre Konsumgüter in Beschlag nehmen. Er hörte vom Klimawandel und verzweifelte daran, dass noch immer Benzinmotoren in Autos eingebaut werden. Finanzkrisen kamen, gingen und kamen zurück, weil die Politik anscheinend die Banken machen ließ, was sie wollten. Heitz befiel eine Art Weltschmerz. "Die Globalisierung betrifft ja alle. Wir sind ein Teil davon", klagt er.

Auf der Suche nach Antworten und Lösungen surfte der studierte Physiker und Mathematiker durchs Internet - und litt weiter. Bis er auf einen Beitrag über ein neues Phänomen stolperte. Unter dem Motto "Occupy Wall Street" ("Besetzt die Wall Street") demonstriert seit etwa einem Monat eine New Yorker Protestgruppe im Herzen der amerikanischen Finanzindustrie gegen die Macht der Banken und Fonds und für ein besseres Sozialsystem. Was mit einem Grüppchen junger Leute begann, führte bald zu Demonstrationen mit Tausenden von Teilnehmern. In der Geschwindigkeit seiner Ausbreitung ähnelte "Occupy" eher einer Springflut als einer Protestwelle, auf der Internetplattform Facebook hat die Bewegung inzwischen mehr als 110 000 Anhänger.

Heitz war fasziniert. Irgendwie erinnerte ihn das Ganze an ein Zitat von Victor Hugo: "Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist." Ist diese Zeit nun angebrochen?

+++ Kommentar: Ein klarer Schnitt am Finanzmarkt +++

Die Occupy-Bewegung, die Jugenddemonstrationen in Spanien im Mai, die Erfolge der Piratenpartei in Deutschland - weltweit scheint sich ein Unwille gegen die Politik der nationalen Regierungen und Parlamente auszubreiten. Heute könnten sich die Unzufriedenen zum ersten Mal alle zugleich versammeln. Das Internet macht es möglich, dass sich Einzelproteste global vernetzen und gegenseitig potenzieren: An diesem Sonnabend sind laut Website " www.15october.net " weltweit in etwa 1000 Städten Proteste geplant, in Deutschland sind es 50. In Hamburg hat das Anti-Globalisierungs-Netz Attac zwischen 14 und 17 Uhr zu einer Versammlung auf dem Rathausmarkt aufgerufen, unterstützt von der Linken und dem DGB, aber auch von neuen Bewegungen wie "Echte Demokratie jetzt" und "Occupy". Die Hamburger Polizei erwartet bis zu 3000 Teilnehmer. Zu einer Kundgebung vor der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main werden rund 1500 Menschen erwartet. In Berlin veranstaltet Attac eine "Krisenanhörung" zu den Auswirkungen der Finanzkrise. Am Nachmittag sind Demonstrationen vor dem Bundeskanzleramt und in Kreuzberg geplant.

Doch die Frage, um welche mächtige Idee es sich da eigentlich handelt, dürften wohl die wenigsten Teilnehmer beantworten können. Die Gruppen vertreten nicht nur untereinander verschiedene Meinungen, sondern auch innerhalb der eigenen Organisation - sofern sie überhaupt über eine eigene Organisation verfügen.

Thomas Heitz sagt über sich selbst, dass es ihm nicht schlecht gehe. Er habe zwar schon viele Jobs gehabt, war mal Heilpraktiker, Yoga-Lehrer, Callcenter-Mitarbeiter, doch jetzt wohne er in einer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung in Eppendorf, als Selbstständiger müsse er sich über keinen Chef ärgern, das Einkommen stimme auch. Aber als er hörte, dass sich Anfang dieser Woche ein Ableger von Occupy zum ersten Mal in Hamburg traf, zog es ihn hin.

Den etwa zehn Menschen, auf die er in dem Restaurant im Karolinenviertel stieß, ging es ähnlich wie ihm. Da waren Angestellte, Studenten, Selbstständige, doch sie alle teilen das vage Gefühl, dass etwas in der Gesellschaft nicht mehr stimmt, dass etwas aus den Fugen geraten ist. Man diskutierte, was dagegen zu tun sei. Den Euro scheitern lassen? Geld ganz abschaffen? Oder vielleicht doch nur die Banken etwas strenger kontrollieren? Auf jeden Fall schon mal mehr Basisdemokratie. Es gab keine Lösungsvorschläge, keinen Programmentwurf bei diesem Treffen, aber Heitz ist trotzdem selig. Er ist nicht mehr allein mit seinen Zweifeln. Aber was wird die Botschaft sein, für die er auf die Straße geht? Heitz zuckt die Schultern: "Welche Botschaft? Es gibt in der Occupy-Bewegung so viele verschiedene Positionen, da wäre es ungerecht, eine einzelne zu vertreten." Unter anderem habe die Gruppe zu einem überkonfesssionellen Gebet aufgerufen. Er überlegt: "Wir sind schon mehr als bloß dagegen. Vielleicht kann man sagen, wir sind für Gleichheit und Brüderlichkeit." Aber das, so betont er, sei auch nur seine private Meinung. Denn die Occupy-Bewegung hat keinen Vorsitzenden oder Sprecher. Das Ganze sei ein bisschen so wie die friedliche Widerstandsbewegung von Mahatma Gandhi, versucht Heitz zu erklären. Bloß ohne Mahatma Gandhi eben.

So musste Occupy gestern über Facebook erst mal seine Unterstützer vor der Demonstration instruieren, man stehle nichts, sei gewaltfrei und spalte nicht: "Wir sollten überhaupt dankbar sein, wenn wir Pseudo-Individualisten mit unseren gravierten iPods es mal schaffen, uns anzufreunden, uns kennenzulernen, und obwohl wir grundverschieden sind, gemeinsam für ein Ziel einzutreten."

Der Soziologe Dieter Rucht vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung hält einen Erfolg der Protestbewegung für zweifelhaft. Die Rahmenbedingungen für ein Herüberschwappen der Occupy-Protestwelle nach Deutschland seien zwar günstig. "Es gibt eine massiv verbreitete Unzufriedenheit in der Bevölkerung", sagt Rucht. Aber es fehle ein klarer Auslöser und ein klarer Adressat für die Empörung. In den USA biete sich die Wall Street als Ziel der Wut an. In Deutschland gebe es aber keine eindeutigen symbolischen Orte, die von großen Menschenmassen gewissermaßen "belagert" und zum Zentrum der Proteste werden könnten, sagte Rucht. Der Direktor des Bonner Instituts zur Zukunft der Arbeit, Klaus Zimmermann, sieht die Proteste als Beleg, dass das Unbehagen über das Finanzsystem mittlerweile die Mitte der Bevölkerung erreicht hat. "Die Politik muss dies ernst nehmen, auch wenn ich die Fundamentalkritik an unserem Wirtschafts- und Finanzsystem nicht zu teilen vermag", sagte er "Handelsblatt Online".

In New York konnten die Occupy-Anhänger schon einen kleinen Sieg feiern. Die Stadt verzichtete auf die Räumung des kleinen Parks, in denen die Globalisierungsrebellen ihre Zelte aufgeschlagen haben. Eigentlich hatten am Freitag um 7 Uhr Ortszeit Putzkolonnen anrücken sollen, um den Park von Dreck zu reinigen, wie es Bürgermeister Michael Bloomberg angekündigt hatte. Das Gelände könne die Last der vielen Menschen nicht tragen. Anwohner hätten befürchtet, dass die völlig überfüllten Abfalleimer Ratten und Ungeziefer anlockten. Der Park sollte mit Hochdruckreinigern gesäubert werden, dann dürften die Demonstranten zurück - Zelte und Schlafsäcke würden allerdings nicht mehr geduldet.

Die Protestler hatten befürchtet, dass sie unter diesem Vorwand dauerhaft vertrieben werden sollten, und zum Widerstand aufgerufen. "Dies ist eine Notsituation", hatte die Gruppe, die mit Schlafsäcken im Park campiert, auf ihrer Website geschrieben und damit etliche Unterstützer mobilisiert. "Haltet Bloomberg und Kelly davon ab, ,Occupy Wall Street' gewaltsam zu vertreiben", lautete der Aufruf. Ray Kelly ist der Polizeichef der Metropole und für sein hartes Durchgreifen bekannt. Im Laufe der Demonstrationen hatte es bereits Hunderte Festnahmen gegeben; die Protestler beklagten sich über rüde Polizeimethoden.

Erst bei einem "Freudenmarsch" nach der verschobenen Räumung kam es zu vereinzelten Zusammenstößen und zu mehreren Festnahmen. Im ganzen Land gibt es ähnliche Aktionen. In Seattle im nordwestlichen Bundesstaat Washington nahm die Polizei zehn Menschen fest. Auch in Denver gab es Festnahmen. Demonstranten hatten am Capitol des Staates Colorado ihr Lager aufgeschlagen. Die Polizei ordnete die Räumung an. "Wenn das Volk vereinigt ist, kann es nicht besiegt werden", skandierten einige Besetzer in New York. Es waren auch Schilder zu sehen mit der Aufschrift "Der Klassenkampf beginnt hier!". Die Demonstranten betonten, dass ihr Protest friedlich sein solle. Weichen aber würden sie nicht.