Berlin/Brüssel. Russland-Experten: Kremlchef will sein Land wieder als Weltmacht etablieren - und sich Vorteile im Ukraine-Konflikt verschaffen.

Russland setzt seine Militäraktionen in Syrien mit unverminderter Härte fort. Syrische Regierungstruppen und verbündete Milizen haben mit Unterstützung der russischen Luftwaffe am Donnerstag weitere Rebellenstellungen im Westen Syriens unter Beschuss genommen. Die heftigen Angriffe hätten Aufständischen in der strategisch wichtigen Ghab-Ebene gegolten, teilte die oppositionelle Syrische Beobachterstelle für Menschenrechte in London mit. Kämpfer der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) hätten sich dort allerdings nicht aufgehalten. Die russische Regierung rechtfertigt ihre Bombenattacken vor allem mit dem Ziel, den IS zu bekämpfen.

Die syrische Armee sprach von einer Großoffensive, um Gebiete unter der Kontrolle von Aufständischen zu befreien. Die Beobachterstelle berichtete von einem Sperrfeuer von Boden-Boden-Raketen begleitet von Angriffen russischer Kampfjets. Die Ghab-Ebene grenzt an eine Bergkette, die das Kernland der alawitischen Glaubensgemeinschaft an der Westküste bildet, zu der auch Präsident Baschar al-Assad gehört. Die Alawiten sind eine schiitische Sekte. Eine Rebellenallianz unter Beteiligung des Al-Qaida-Ablegers Nusra-Front hatte das Gebiet Ende Juli erobert und die Regierungstruppen zum Rückzug gezwungen. Die russische Regierung bezeichnet alle Gegner Assads – von der gemäßigten Freien Syrischen Armee bis hin zum IS – als „Terroristen“.

Das Verteidigungsministerium in Moskau teilte mit, russische Kriegsschiffe hätten am Mittwochabend vom Kaspischen Meer aus Ausbildungs- und Munitionslager sowie Kommandozentralen des IS in Syrien angegriffen. Die Marschflugkörper seien eine Distanz von 1500 Kilometern über den Iran und den Irak geflogen. Genaue Ortsangaben machte das Ministerium jedoch nicht.

Russland baue auf Gegensatz zu Amerika

Russland hat seine Luftangriffe zur Unterstützung von Assad vor einer Woche gestartet und erklärt, sie dienten der Bekämpfung des IS. Der Westen wirft der Führung in Moskau aber vor, zumeist gegen andere Aufständische vorzugehen, darunter gemäßigte Gruppen, die gegen Assad kämpfen.

Russlandexperten in Deutschland sehen in der Intervention Moskaus den Versuch, sich wieder als Weltmacht zu etablieren. „Aus Moskauer Perspektive ist Russland nach Jahren der Demütigung, des Rückzugs und der US-Dominanz wieder auferstanden. Russland vertritt erneut als Großmacht seine Interessen“, sagt die „Stern“-Journalistin Katja Gloger, die gerade das im Berlin Verlag erschienene Buch „Putins Welt“ veröffentlicht hat.

Russland baue dabei – wie zu Zeiten des Kalten Krieges – auf den Gegensatz zu Amerika. „Moskau begreift sich als Ordnungsmacht und lehnt alle ‚Farbenrevolutionen‘ wie den Aufstand in der Ukraine oder den ‚Arabischen Frühling‘ ab“, so Gloger. „Durch die Moskauer Brille haben die USA diese ‚Farbenrevolutionen‘ gefördert, um die entsprechenden Länder zu destabilisieren und ihre Interessen zu verfolgen.

Neben der Weltmachtrolle sieht der Putin-Biograf Boris Reitschuster noch ein anderes Motiv: „Syrien ist für den Kremlchef eine Trumpfkarte im Pokerspiel um die Ukraine.“ Reitschusters Erklärung: „Eventuelle Zugeständnisse in Syrien will sich Putin durch Zugeständnisse des Westens im Ukraine-Konflikt erkaufen.“ Wladimir Putin gehe es dabei vor allem um die De-facto-Anerkennung der Krim und den Wegfall der Sanktionen. „Der Brandstifter bietet sich sozusagen als Feuerlöscher an“, betont Reitschuster.

Nato will auch die Türkei schützen

Josef Janning von der Berliner Denkfabrik European Council on Foreign Relations sieht darüber hinaus einen Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise. „Die Europäer geraten durch den starken Flüchtlingsstrom in Bedrängnis. Das wiederum setzt die USA unter Druck, mit Russland auf Augenhöhe zu verhandeln“, so Janning. Russland wolle sich in jedem Fall unverzichtbar machen.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sicherte der Türkei unterdessen zu, die Allianz sei zur Entsendung von Truppen zum Schutz der südlichen Grenze bereit, sollte es dort zu Bedrohungen kommen. „Die Nato ist bereit und in der Lage, alle Verbündeten zu verteidigen, darunter auch die Türkei“, sagt er am Donnerstag am Rande des Treffens der Nato-Verteidigungsminister in Brüssel. Zugleich forderte er Russland auf, eine konstruktive Rolle im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ einzunehmen. Dies sei nicht der Fall, solange Russland Assad unterstütze.

Die schnelle Eingreiftruppe sei darauf vorbereitet, in das südliche Bündnisgebiet und auch in die Türkei geschickt zu werden, wenn das nötig sei, betonte der Nato-Generalsekretär. Aus Syrien kommende russische Kampfflugzeuge waren jüngst unerlaubt in den türkischen Luftraum eingedrungen.

Expertin spricht von „fatalen Konsequenzen“

Der türkische Verteidigungsminister Vecdi Gönül bat in Brüssel um eine stärkere Nato-Präsenz und konkret um Unterstützung bei der Luftabwehr. Deutschland will seine 100 Kilometer von der syrischen Grenze stationierten „Patriot“-Raketenabwehrsysteme trotzdem abziehen. „Es ist die Frage, welche Gefahr wie gebannt werden kann, und in diesem Kontext ist diese Entscheidung richtig“, sagte Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU).

In der kommenden Woche sollen die deutschen „Patriot“-Systeme abgeschaltet werden. Die USA haben bereits ihre „Patriot“-Batterien deaktiviert. Der größte Teil der 260 deutschen Soldaten soll noch vor Weihnachten zurückkehren.

Angesichts der Zunahme der Spannungen in Nahost sieht die Russlandexpertin Katja Gloger die Gefahr einer Eskalation: „Ein dummer, tragischer Zufall, der etwa zum Abschuss eines Kampfjets führt, kann fatale Konsequenzen nach sich ziehen.“