Hamburg. Neben Deutschland nehmen die Skandinavier die meisten Flüchtlinge auf. Die Asylpolitik ist liberal, doch nun rüsten die Rechten auf.

Die Umfrage der schwedischen Zeitung „Metro“ kam einem Schock gleich. Ende August sprangen die rechtsradikalen Schwedendemokraten zum ersten Mal in dem Stimmungstest auf mehr als 25 Prozent – fast doppelt so viel, wie sie bei der Reichstagswahl 2014 erlangt hatten. Die Demoskopen taxierten sie noch vor den traditionell starken Sozialdemokraten und den Konservativen als stärkste Partei. Auch wenn Meinungsforscher und Politiker unverzüglich auf Schwächen der Umfrage verwiesen und Experten von einer „Momentaufnahme“ sprachen – unübersehbar ist: Schweden rückt nach rechts.

Das neue Selbstbewusstsein der Partei, die als Neonazi-Gruppierung begann und sich inzwischen etwas bürgerlich geschminkt hat, ist unübersehbar. Anfang August warben die Schwedendemokraten in der zentralen Stockholmer U-Bahn-Station Öster­-malmstorg großflächig mit Bannern. Darauf entschuldigten sie sich scheinheilig bei den Touristen für das „Chaos“ in Schweden — das „ernsthafte Problem mit erzwungenem Betteln“ durch „internationale Banden“. Die Kampagne zielt auf bettelnde Roma in Stockholms Straßen. „Die Regierung macht nicht, was nötig ist“, plakatierten die Schwedendemokraten – und versprachen Abhilfe, spätestens nach der Wahl 2018.

Schweden sieht sich mit einer massiven Zuwanderung konfrontiert. Traditionell ist das Land sehr großzügig, wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingen geht. So stellten im vergangenen Jahr 75.000 Menschen einen Erstantrag auf Asyl (im fast neunmal so großen Deutschland waren es „nur“ 171.000). Allerdings verharren die Zahlen in Schweden derzeit auf diesem Niveau. Waren es in den ersten sieben Monaten dort 37.000 Asylbewerber, kletterte die Zahl in der Bundesrepu­blik im selben Zeitraum auf fast 200.000. Die Skandinavier gewähren zudem oft Asyl: Zwei Drittel der Anträge werden bewilligt, in Deutschland sind es 39 Prozent. Angesichts dieser Zahlen werden viele Linke nicht müde, Schweden als Modell anzupreisen.

Sie werden sich vermutlich bald ein neues Vorbild suchen müssen.

Timo Lochocki, Skandinavienkenner und Migrationsexperte beim German Marshall Fund in Berlin, hält das schwedische Modell angesichts der erstarkenden Rechten und einer unzureichenden Integration für „kolossal gescheitert“. Die Schweden hätten nicht vermocht, sich den veränderten Rahmenbedingungen anzupassen und lieb gewonnene Ideale zu hinterfragen.

So war die schwedische Politik stets nicht nur bei der Aufnahme, sondern auch seit den Siebzigerjahren bei der Versorgung der Flüchtlinge extrem generös. „Die Großzügigkeiten des schwedischen Wohlfahrtsstaates gelten faktisch schon bei der Einreise“, so Lochocki.

Dieses Integrationsmodell war zugeschnitten auf europäische Einwanderer und funktionierte lange recht gut: Gemäß den Idealen der Zeit lauteten die Ziele: „Gleichberechtigung, kulturelle Wahlfreiheit, Mitwirkung“. Doch ab den Neunzigerjahren nahmen die Probleme in Folge einer tiefen Rezession zu. „Der Arbeitsmarkt ist heute dienstleistungsorientiert und nicht auf Menschen ausgelegt, die nicht perfekt Schwedisch sprechen“, sagt Lochocki. Schweden alimentiere eine breite Bevölkerungsschicht, die dauerhaft vom Arbeitsmarkt ausgegrenzt ist. Bis heute kümmern sich spezielle „Einwanderungsbüros“ intensiv um Migranten. Diese Fürsorge, so Kritiker, lässt den Eigenantrieb erlahmen und hält die Einwanderer in Unmündigkeit.

Lochocki fürchtet, dass Schweden in den kommenden Jahren „dänemarkisiert“ – also seine Einwanderungspolitik wie Dänemark drastisch verschärft. Auch eine Zusammenarbeit der Konservativen mit den Rechtspopulisten schließt er nicht aus. „Schweden dürfte in der Zukunft von einer Mitte-Rechts-Mehrheit dominiert werden“, sagt der Wissenschaftler. Einen Kardinalfehler sieht er im Umgang der etablierten Parteien mit den Schwedendemokraten. „Alle Parteien haben auch die Wähler der Rechtspopulisten als Nazis abgestempelt und sich der Diskussion verweigert“, so Lochocki. Nun profitieren die Schwedendemokraten vom inszenierten Tabubruch und dominierten die gesamte Einwanderungsdebatte.

So werden Verbrechen mit Beteiligung von Migranten laut diskutiert. Und die Nächte des Mai 2013 sind nicht vergessen. Damals zerbrachen in Schweden viele Illusionen: Jugendliche zündeten in den Vorstädten von Stockholm mehr als 100 Autos an, bewarfen Feuerwehrleute mit Steinen und zündeten mehrere Polizeistationen an. Professor Ove Sernhede vom Zentrum für urbane Studien erklärte die Unruhen mit „der verfehlten Integrationspolitik und fehlenden Stadtplanungskonzepten“, welche die Kluft zwischen Arm und Reich in Schweden vergrößert habe. „Viele Migranten haben den Halt in unserer Gesellschaft verloren und leben unter äußerst prekären Verhältnissen.“

Vor allem die hohe Jugendarbeitslosigkeit bleibt ein massives Problem. Sie verharrt bei 25 Prozent, in den Brennpunkten der drei größten Städte Stockholm, Göteborg und Malmö haben sogar 40 Prozent der Jugendlichen zwischen 20 und 25 Jahren weder Schulabschluss noch Arbeit. Die Segregation, also die Abgrenzung bestimmter Ethnien in Vororten, ist groß. Sowohl der Arbeits- als auch der Wohnungsmarkt gelten als verkrustet — die ursprünglich als Schutzrechte formulierten Gesetze grenzen heute die Neuankömmlinge aus.

Längst ist Schweden eine multikulturelle Gesellschaft, in der fast jeder Fünfte Wurzeln im Ausland hat. Doch der Wohlfahrtsstaat klassischer Prägung stößt an seine Grenzen. Im letzten Wahlkampf waren die Kosten der Einwanderung eines der großen Themen. Und immer lauter wird darauf verwiesen, dass sich die Transferleistungen an Einwanderer jährlich auf mehrere Milliarden Euro summieren.

Die kommende Parlamentswahl findet erst im Jahr 2018 statt – doch schon heute warnen viele Experten vor einem Rechtsruck. „Vielleicht sagen wir in fünf bis zehn Jahren, dass Schweden mal ein tolerantes Land war“, sagt Timo Lochocki.