Athen. Alexis Tsipras ist wieder einmal einen Schritt schneller als seine Gegner. Die könnten bei den anstehenden Wahlen ein Problem bekommen.

Alexis Tsipras ist zu Jahresbeginn als idealistischer Rowdy gestartet, hat sich im Amt des griechischen Regierungschefs aber immer mehr zum gewieften Machtpolitiker gewandelt. Nach monatelangem Hickhack flossen gestern die ersehnten ersten Milliarden des neuen Hilfsprogramms – und nur Stunden später warf sich der Chef des Linksbündnisses Syriza in einen neuen politischen Kampf, diesmal im Inland. Tsipras verkündete noch am Abend in einer Fernsehansprache seinen Rücktritt und machte so den Weg zu Neuwahlen am 20. September frei. Das Ziel: die Ausschaltung seiner innerparteilichen Opposition.

Staatspräsident Prokopis Pavlopoulos nahm das Rücktrittsgesuch am Abend an. Gemäß der Verfassung übernimmt nun eine Interimsregierung unter Leitung eines der höchsten Richter die Amtsgeschäfte bis zu den Wahlen. Pavlopoulos erteilte zudem dem Chef der zweitstärksten Fraktion im Parlament, der konservativen Nea Dimokratia (ND), ein Sondierungsmandat zur Bildung einer neuen Regierung – was als wenig aussichtsreich gilt.

Neuwahlen sollen über politische Bedeutung des linken Flügels entscheiden

Tsipras strebt bei den Neuwahlen nach eigenen Worten ein neues, „starkes“ Regierungsmandat an: Jetzt, wo das neue milliardenschwere Hilfspaket unter Dach und Fach sei, wolle er gestärkt mit den internationalen Geldgebern über eine Umstrukturierung des Schuldenbergs verhandeln.

Bei einer Umfrage Ende Juli hatten mehr als 60 Prozent Tsipras positiv beurteilt. Seine Popularität könnte aber leiden, wenn Sparkurs und Steuererhöhungen spürbar werden. Mehrere Minister hatten sich daher schon für eine rasche Neuwahl ausgesprochen.

Tsipras hatte sich am Donnerstagnachmittag mit engen Vertrauten beraten. Der Weg zu Neuwahlen über eine verlorene Vertrauensfrage im Parlament wurde nach Angaben eines Regierungsvertreters dabei verworfen.

Nun soll also das Volk in Neuwahlen entscheiden, wie viel politische Bedeutung der fundamentalistische linke Syriza-Flügel tatsächlich beanspruchen kann. Die abtrünnigen Genossen lehnen Tsipras’ mit den internationalen Gläubigern verabredete Sparpolitik ab und haben ihm mit Neinstimmen im Parlament wiederholt Knüppel zwischen die Beine geworfen – und zwar gleich dreimal seit Anfang Juli. Die Taktik, den Gegner ständig zu überraschen, beherrscht Tsipras seit jungen Jahren. Er durchlief einen klassisch linken Werdegang. Die ersten politischen Schritte machte er als Anführer rebellischer Schüler. Er wurde Mitglied der Kommunistischen Jugend Griechenlands (KNE). Dann folgte der Weg zur Anti-Globalisierungs-Bewegung und dem damals unbedeutenden Linksbündnis Syriza.

Im Sommer 2001 führte sein Engagement Tsipras mitten in die gewalttätigen Demonstrationen gegen den G8-Gipfel im italienischen Genua – eine britische Zeitung hat vor wenigen Wochen die Bilder ausgegraben, die den jungen Griechen am Rande von Ausein­andersetzungen mit Dutzenden italienischen Polizisten zeigen. Bei den schweren Zusammenstößen gab es damals Hunderte Verletzte, ein Demons­trant wurde erschossen.

Der Weg von den Straßen Genuas in den Athener Regierungssitz ist das Meisterstück des heute 41-Jährigen. Die Wirbel und Stürme der Finanzkrise brachten Tsipras dahin, wo ihn niemand erwartet hatte: Er beendete im Januar den ewig scheinenden Regierungsreigen zwischen Konservativen und Sozialisten.

Tsipras war zur richtigen Zeit am richtigen Ort

Unter Tsipras’ Führung erlebte das Bündnis der Radikalen Linken (Syriza) einen fulminanten Aufstieg – von 4,6 Prozent im Jahr 2009 auf 26,9 Prozent 2012. Am 25. Januar gewann er die Wahlen klar mit 36,3 Prozent der Stimmen. Alle Umfragen deuten darauf hin, dass er auch die nun anstehenden Neuwahlen gewinnen wird. Unklar ist jedoch, ob er dabei die absolute Mehrheit erreichen kann. Zurzeit regiert er in einer schwierig zu führenden Koalition mit Rechtspopulisten vom anderen Ende des politischen Spektrums.

Grund für Tsipras damaligen Erfolg: Viele Griechen hatten die Versprechungen der alten Regierungsparteien satt. Sie führten mit ihrer Vetternwirtschaft das Land an den Abgrund. Tsipras – kein Teil der alten Machtelite – schien einen neuen Weg zu eröffnen.

Der Vater zweier Kinder lebt mit seiner Lebensgefährtin in Kypseli, einem Athener Arbeiter- und Angestelltenviertel. Selten sieht man das Paar zusammen. Peristera Baziana ist politisch aktiv, bleibt aber fast immer im Hintergrund.

Seit Januar definieren Tsipras und seine Mitarbeiter die griechische Politik. Einer kleinen Gruppe von etwa sieben Vertrauten wird großer Einfluss zugeschrieben. Dazu gehören sein politischer Mentor, Alekos Flambouraris, und der Jugendfreund Nikos Pappas. Beide sind Staatsminister.

Tsipras bleibt vielen ein Rätsel. „Er hat viele Gesichter. Ich kann ihn nicht einstufen. Ein sogenanntes Janus-Gesicht“, sagt ein Psychologe aus Thessaloniki. Tsipras wirkt höflich, hat ein doppeldeutiges Lächeln, aber dann kommt plötzlich ein kämpferischer Spruch, mit geballter Faust will er gegen den Neoliberalismus kämpfen. Er weiß aber auch, wann er einlenken muss. So vollzog er beim jüngsten Euro-Gipfel eine Drehung um 180 Grad und akzeptierte ein hartes Sparprogramm im Austausch für die Rettung seines Landes mit einem neuen Hilfsprogramm von bis 86 Milliarden Euro.

Die Lage Griechenlands erscheint trostlos. Jeder Vierte ist ohne Job, die Einnahmen des Staates schrumpfen, Wachstum ist nicht in Sicht. Doch Tsipras versteht es, trotz der sozialen Härten das Volk auf seine Seite zu ziehen.