Sorge um US-Informanten nach Panne bei der Enthüllungsplattform. In einer Schlammschlacht weisen die Beteiligten jede Schuld von sich.

Berlin. Es ist die größte Datenpanne jener Organisation, die sich der absoluten Transparenz verschrieben hat, um die Welt ein wenig besser zu machen. Immer wieder stellte die Enthüllungsplattform WikiLeaks in der Vergangenheit geheime Dokumente ins Internet, um so Skandale und Staatsgeheimnisse zu lüften. Damit wurde vor allem die Supermacht USA bloßgestellt, weil sie ihre sensiblen Daten nicht unter Kontrolle hatte. Doch das trifft jetzt auf die Enthüller selbst zu. Und das ist lebensgefährlich. Nicht für den umstrittenen WikiLeaks-Betreiber, den geisterhaft blassen Julien Assange - sondern nach Angaben der "New York Times" für einige Hundert Menschen, die als Informanten der US-Regierung in teils autokratischen und totalitären Staaten tätig waren.

+++Julian Assange fürchtet um Sicherheit von Informanten+++

+++Wikileaks verliert Kontrolle über Datenbestand +++

Sie sind Oppositionelle, Aktivisten, Journalisten oder Menschenrechtler aus Ländern wie Iran, Syrien oder China. Sie haben, so geht es aus Hunderttausenden nun öffentlich gemachten Berichten hervor, US-Botschaftsangehörige mit Informationen versorgt. Ihre Namen wurden in einem ersten Teil dieser Berichte, die WikiLeaks zugespielt und bereits im Dezember 2010 veröffentlich wurden, zum Schutz vor Repression, Strafe oder Verfolgung geschwärzt. Jetzt aber kursiert eine unredigierte und unzensierte Version im Internet. Jeder, der gezielt danach sucht, kann die 1,73 Gigabite große Datei mit dem Namen "cables.csv" und das dazugehörige Passwort finden und herunterladen. Das gelte auch für die Geheimdienste diverser autoritärer Staaten, wie ein ehemaliger Sprecher des US-Außenministeriums unlängst besorgt feststellte. Recherchen des Abendblatts bestätigen: Immer wieder werden in den umfangreichen Dokumenten die vollen Namen und teilweise auch Positionen von Informanten genannt - auch wenn jeweils dahinter der Hinweis "Protect Source" (Quelle schützen), "Please protect" oder sogar "Strictly protect" angegeben ist.

Der Schaden ist längst nicht mehr rückgängig zu machen. Seit die Datei in Umlauf ist, wurde sie immer wieder kopiert und weitergegeben. WikiLeaks-Kopf Assange weist jegliche Verantwortung von sich. Wie es zu dem gigantischen Leck genau gekommen ist, liest sich wie die Vorlage für einen Krimi und wird gerade in einer heftigen Schlammschlacht zwischen Assange, dem ehemaligen Sprecher von WikiLeaks, dem Deutschen Daniel Domscheit-Berg und der britischen Zeitung "Guardian" ausgefochten. Unklar ist derzeit noch, wer recht hat und wer tatsächlich die fatale Fehlerkette in Gang gesetzt hat. Die Jagd nach dem Verräter läuft.

Für WikiLeaks jedenfalls ist die Sache klar. Der "Guardian" ist schuld an dem Datenleck. In der Nacht zu Mittwoch erhob die Enthüllungsplattform deshalb schwere Vorwürfe an den dort arbeitenden Reporter David Leigh. In seinem im Februar veröffentlichten Buch über WikiLeaks habe Leigh "rücksichtslos und ohne Erlaubnis und im vollen Wissen" das Passwort zur Entschlüsselung der Dateien enthüllt. Das Wissen um das durchgesickerte Passwort habe sich über Monate verbreitet, hieß es in einer Mitteilung, die mit 1600 Worten kurz und bündig ausfiel. Und tatsächlich gibt es in Leighs 352-Seiten-Buch, das den Titel "Inside Julian Assange's War on Secrecy" trägt, eine Passage, in der er beschreibt, wie Assange ihm das Passwort für die Datei gab. Assange habe es ihm auf einem Stück Papier aufgeschrieben und dann gesagt: "Das ist das Passwort. Aber du musst ein zusätzliches Wort einfügen, wenn du es eingibst. Du musst das Wort ,Diplomatic' vor dem Wort ,History' einfügen. Kannst du das behalten?"

Natürlich konnte Leigh. Er hatte Passwort und Lagerort der mehr als 250 000 US-Depeschen von Assange bekommen, weil der "Guardian" ebenso wie die amerikanische "New York Times" und der deutsche "Spiegel" als Medienpartner von WikiLeaks bei der Veröffentlichung des Datenwustes halfen. Auch in der Bundesrepublik sorgten die geheimen Berichte für Furore. So erfuhr man hierzulande etwa auch, wie die US-Elite deutsche Spitzenpolitiker einschätzt. Außenminister Guido Westerwelle (FDP) wurde als inkompetent und eitel dargestellt, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) firmierte wegen ihrer Risikoscheue unter anderem als "Teflon-Merkel".

Der "Guardian" wies die Vorwürfe von WikiLeaks umgehend zurück. "Es ist Unsinn zu behaupten, dass das WikiLeaks-Buch des ,Guardian' in irgendeiner Weise die Sicherheit gefährdet hat", erklärte die britische Zeitung. In dem Buch sei zwar ein Passwort genannt worden, "uns wurde aber gesagt, dass es ein zeitlich begrenztes Passwort sei, das verfallen und binnen Stunden gelöscht werde". Leigh selbst sagte: "Wir haben die Adresse, wo die Dateien lagen, nicht verraten, und auf jeden Fall hat Assange uns gesagt, dass sie nicht länger existieren würde." WikiLeaks selbst machte keine Angaben dazu, ob und warum die Depeschen noch online waren. In einer weiteren Mitteilung hieß es, man prüfe nun juristische Schritte gegen den "Guardian" und eine Person in Deutschland, die das Passwort zum persönlichen Nutzen weiterverteilt hat.

An dieser Stelle kommt Daniel Domscheit-Berg ins Spiel. Bis Herbst 2010 war er das deutsche Gesicht von WikiLeaks und der Sprecher des Portals. Nach einer engen Freundschaft entzweite er sich aber so sehr mit Assange, dass er WikiLeaks verließ. Im Februar brachte er ebenfalls ein Enthüllungsbuch auf den Markt: "Inside WikiLeaks - meine Zeit bei der gefährlichsten Website der Welt." Darin wird mehr als deutlich, was Domscheit-Berg von Assange hält: Der WikiLeaks-Gründer sei größenwahnsinnig, paranoid und ein Soziopath. Seit Domscheit-Berg die Konkurrenz-Plattform "Open Leaks" ins Leben rief, war das Tischtuch zwischen dem Australier Assange und seinem deutschen Ex-Mitstreiter endgültig zerschnitten. Auch Domscheit-Berg kam während seiner Arbeit bei WikiLeaks mit den brisanten US-Depeschen in Berührung - und nahm einen Datensatz mit, als er das Portal verließ. Für WikiLeaks ist er heute neben dem Reporter Leigh der zweite Verantwortliche für den aktuellen Skandal.

Über seinen Anwalt warf Assange dem Aussteiger den Bruch von Absprachen und Selbstverpflichtungen sowie "ein gesteigertes Maß an Niedertracht" vor. Domscheit-Berg habe Journalisten Hinweise zur Öffnung der verschlüsselten Dateien gegeben, zitierte die Nachrichtenagentur dpa aus dem betreffenden Schreiben. "Mit Ihrem Tun gefährden Sie möglicherweise das Leben und die rechtlichen Interessen Dritter." Das Verhalten Domscheit-Bergs sei "in hohem Maße geeignet, die von Ihnen angeblich befürchteten Gefährdungen überhaupt erst herbeizuführen". Domscheit-Berg wiederum bezeichnete die Vorwürfe als "Ablenkungsmanöver". Vielmehr habe WikiLeaks Fehler gemacht, zum Teil wegen "des fahrlässigen Handelns von Herrn Assange".

Es steht also Aussage gegen Aussage. Die US-Regierung bemüht sich um Schadensbegrenzung. Der "New York Times" sagte eine Sprecherin des Außenministeriums, es würde alles getan, um "denen beizustehen, die durch diese illegalen Enthüllungen zu Schaden kommen könnten". Während für die Computerexperten von WikiLeaks das eigene Leck und der Kontrollverlust zur größten Panne ihrer Arbeit wird, ist die Folge für die jetzt öffentlich genannten Informanten vor allem eines: ein Leben in Angst.