Jüdische Gemeinde in Kopenhagen will nach islamistischem Anschlag nicht in Panik verfallen. Doch das Land muss den Antisemitismus bekämpfen

Kopenhagen. Bent Melchior ist 85 Jahre alt, von Beruf „Pensionär“, wie er kokettiert, als ob er einer von gestern wäre. Dabei lacht er und wippt mit seinem Bauch hin und her. Aber so wichtig und so präsent wie heute war er selten, selbst, als er noch Dänemarks oberster Rabbi war. Heute hat dieses Amt sein Enkel Jair inne. Melchior steht vor seiner Synagoge an der Kopenhagener Straße Krystalgade und gibt fortlaufend Interviews, Statements und Einschätzungen ab. Weil er eine Kippa trägt, ist er als Jude leicht zu erkennen. Und so stürzen sich Passanten und Journalisten auf den alten Rabbi und fragen ihn, was denn davon zu halten sei, dass Dan Uzan ermordet worden ist – von einem fanatischen Islamisten, der unbedingt einen Juden töten wollte.

Um ihn herum patrouillieren Polizisten mit Maschinenpistolen, die abgesperrte Straße wird von Polizeiwagen abgesichert und vor dem eisernen Zaun des Gotteshaus liegen Tausende Blumensträuße, Briefe, Karten und Kerzen. Nichts ist normal nach den beiden Morden, die Omar El-Hussein begangen hat, bevor er von Polizisten erschossen wurde. In diesen Tagen wirken die Maschinenpistolen wie eine unangenehme Erinnerung daran, dass die Freiheit gegen manche ihrer Feinde nur mit Waffengewalt verteidigt werden kann. Meistens wirken schwer bewaffnete Polizist einschüchternd. Hier bringt Mette Sørensen aus dem benachbarten Kaffee „Baresso“ den Polizisten Kaffee in Pappbechern. „Es ist wichtig, dass wir einander helfen“, sagt Mette. „Die machen gute Arbeit, wir können uns sicher fühlen und möchten etwas zurückgeben“, sagt sie dem Sender TV2.

Was ist los im Staate Dänemark, das außerhalb seiner Landesgrenzen für Ferienhäuser und skandinavische Gelassenheit und Lässigkeit bekannt ist? Ein Hauch von Terror weht durch die Stadt. Neben El-Hussein hat die Polizei am Sonntag zwei weitere mutmaßliche Helfer festgenommen, die nun verhört werden. Der Täter stellte noch eine Stunde vor den Morden ein Video bei dem Internetportal YouTube ein, in dem er die Tat ankündigte. Freunden berichtete er, er wolle nach Syrien reisen und sich dem IS anschließen.

Judenhass im liberalen Dänemark? Dem Land, das im Zweiten Weltkrieg seinen 7000 jüdischen Landsleuten die Flucht nach Schweden ermöglichte, bevor die Deutschen sie ergreifen und ermorden konnten? Bent Melchior, der den Deutschen ebenfalls entkommen ist, versucht zu beschwichtigen. „In jeder Gruppe, in jeder Nation und in jeder Religion gibt es ein paar Verrückte, die so ein Chaos anrichten können“, sagt er. Gegen solche Irregeleiteten gebe es nun mal keinen Schutz. Mit dem Islam habe das nichts zu tun, sagt er. Den Begriff „Antisemitismus“ meidet er ganz. „Ich war als Rabbi jahrzehntelang bedroht, ich habe mich nie einschüchtern lassen“, sagt Melchior.

Ein Reporter hält ihm ein Mikrofon hin. Ob er eine Botschaft für die dänischen Muslime habe? „Ja. Übertragt den Kampf zwischen Palästinensern und Israelis nicht auf die Straßen Kopenhagens“, sagt der alte Rabbi. „Werdet Teil der dänischen Gesellschaft, integriert euch. Ich bin auch integriert, und trotzdem Jude“, sagt Melchior.

Jetzt bloß keine Ressentiments schüren, Gräben aufreißen, Schuld zuweisen. Keine Politik, wenig Analyse: Ein wenig erinnert die Szenerie an das verwundete Oslo 2011, das den Mord von 77 Menschen verkraften musste, als Anders Behring Breivik ein Regierungsgebäude in die Luft jagte und anschießend auf der Insel Utøya ein Massaker unter den Teilnehmern eines Juso-Ferienlagers anrichtete. Noch mag der Schock zu frisch sein, um über Themen wie Islamisten und Integration zu diskutieren und Ursachenforschung zu betreiben. Auch in Oslo trafen sich Zehntausende wenige Tage nach den Anschlägen zu einem „Rosenumzug“, um dem Hass „Liebe“ entgegenzusetzen, wie Kronprinz Haakon damals in einer Rede sagte.

Am Montag Abend haben rund 40.000 Teilnehmern bei einer Gedenkfeier gegen Terrorismus demonstriert. Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt sagte: „Ein Angriff auf die Juden ist ein Angriff auf Dänemark – auf uns alle.“ Sie fügte hinzu: „Wir passen aufeinander auf.“ Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, Dan Rosenberg Asmussen, appellierte an Muslime und Juden zusammenzustehen. „Unsere gemeinsame Herausforderung ist der Extremismus“, sagte er.

Dabei ist es nicht das erste Mal, dass religiöser Hass im Königreich ausbricht. Seit dem Karikaturen-Streit 2006, bei dem mehrere Satiriker mit Todesdrohungen belegt wurden, diskutiert auch Deutschlands nördlicher Nachbar die Grenzen von Meinungsfreiheit und Toleranz. Der Zeichner Kurt Westergaard wurde vor wenigen Jahren beinahe Opfer eines Attentäters, der mit einem Messer bewaffnet ins Haus des Mannes einbrach. Westergaard konnte sich allerdings in seinem Badezimmer, das als „panic room“ ausgebaut wurde, vor dem Angreifer verstecken. Wenn er sein Haus im freien Land Dänemark verlassen möchte, schützen ihn mindestens zwei Leibwächter. Daran hat man sich gewöhnt. Verrückte, was will man tun? Auf einer Pressekonferenz am Montag Nachmittag solidarisierte sich Helle Thorning-Schmidt mit den Juden in Dänemark. „Die Juden sind ein Teil der dänischen Gesellschaft. Wir wären nicht das gleiche Land ohne sie. Das ist meine Botschaft“, so die Premierministerin.

An Botschaften ist kein Mangel. Und einige verstören dann schon wieder. Denn auch im Stadtteil Nørrebro, wo der Attentäter von Polizisten erschossen wurde, legten Menschen Blumen hin. Trauer um einen Mörder? „Es ist respektlos, wenn Leute dort Blumen hinlegen“, sagte der konservative Parlamentarier Søren Pape Poulsen. „Wir legen Blumen an die Tatorte, um die Menschen zu ehren, die ihr Leben verloren haben. Blumen an den Ort zu legen, an dem der Täter starb, ist zynisch.“