Russlands Präsident zeigt den Menschen den Mann, den sie sehen wollen – nicht den, der er wirklich ist. Egal, ob als Judosportler, Eishockeycrack, Rennfahrer oder Pilot – Putin schlüpft in jede Rolle.

Hamburg. Mr. Benn ist ein freundlicher Herr aus London in schwarzem Anzug mit Bowler-Hut. Jeden Morgen macht er sich auf und besucht einen Kostümverleih in der Festive Road 52. Er wird bereits erwartet vom Inhaber, der jeweils ein anderes Kostüm für ihn bereitgelegt hat. Mr. Benn kann nun ein Cowboy sein, ein römischer Legionär oder ein Feuerwehrmann. Durch eine magische Tür tritt er ein in eine Welt, die zum Kostüm passt – und erlebt ein spannendes Abenteuer.

Mr. Benn ist in eine in Großbritannien bekannte Figur aus Kinderbüchern und Zeichentrickfilmen. Die britische Wissenschaftlerin Dr. Fiona Hill, Verfasserin des Buches „Mr. Putin: Operative in the Kremlin" (Geheimagent im Kreml), hat in dem russischen Präsidenten einen Seelenverwandten von Mr. Benn entdeckt.

Angesichts der vielen unterschiedlichen Rollen, in die Putin schlüpft – Judosportler, Eishockeycrack, barbrüstiger Taigajäger, Rennfahrer, Taucher, Pilot, Geheimagent, Waffenexperte und viele mehr –, stellt Fiona Hill die Frage, wer Wladimir Putin eigentlich sei. Dieser „Mann aus dem Nichts“, der die Schlagzeilen des Jahres 2014 beherrschte und die Welt auch 2015 in Atem halten dürfte; der Mann, von dem es heißt, er habe keine Substanz, keine Seele, keine Emotionen.

Dabei sagte er 2008, angesprochen auf hartnäckige Gerüchte, er habe ein Vermögen von 40 Milliarden Dollar gehortet: „Ja, ich bin der reichste Mann der Welt. Ich sammle nämlich Emotionen“. Doch es sind die Emotionen anderer, nicht seine eigenen. Seine Frau Ludmila, von der er sich im vergangenen Jahr scheiden ließ, schildert ihn als auch im Privatleben autoritären, zur Einsamkeit neigenden Mann ohne Sinn für ein Familienleben.

Russen sind empfänglich für Figur des starken Mannes


Fiona Hill, die das Buch zusammen mit dem US-Wirtschaftswissenschaftler und Russlandkenner Clifford G. Gaddy schrieb, ist Europadirektorin in der US-Denkfabrik Brookings und Putin-Expertin mit eigener Berufserfahrung im Geheimdienstapparat der USA.

Wie bei der Kunstfigur Mr. Benn habe auch jede Episode und jede Rolle bei Putin einen bestimmten Zweck, meint Hill. Er wende sich damit jeweils an eine bestimmte Gruppe der russischen Bevölkerung. Putin selbst habe eingeräumt, dass er den Menschen den Mann zeige, den sie sehen wollten – nicht den, der er wirklich sei. Die Gesamtheit dieser Auftritte porträtiere Putin als den ultimativen Actionhelden, der in der Lage sei, mit jeder Herausforderung fertig zu werden.

Eine Bemerkung der US-Republikanerin Sarah Palin, einst Gouverneurin von Alaska und Vizepräsidentschaftskandidatin, deren Äußerungen selten hilfreich sind, zeigt, dass Putins Imagekampagne auch außerhalb von Russland auf schlichte Gemüter Eindruck schindet: „Putin wirkt wie ein Mann, der selbst gegen Braunbären kämpfen kann; Barack Obama wie einer, der Frauenjeans trägt.“

Nun mag die russische Gesellschaft besonders empfänglich für die Figur des starken Mannes sein. Das liegt zum einen daran, dass Russland von der Tyrannei der Zaren über die Despotie der Sowjetherrscher direkt in eine chaotische Phase des Verfalls getaumelt ist, die den Russen das schwierige Konzept der pluralistischen Demokratie nicht unbedingt näher gebracht hat. Und zum anderen daran, dass die Zusammenbrüche von Sowjetunion und Warschauer Pakt eine Reihe von Demütigungen mit sich brachten, an denen die USA nicht ganz unschuldig waren.

Bill Clinton hatte düstere Vorahnungen über Putin


Wladimir Putin, der Mann, der als Spion in Deutschland aus der Kälte des Geheimdienstes KGB in die Politik kam, hat Russland mit einer „gelenkten Demokratie“ politisch zwangsstabilisiert und schickt sich jetzt an, aggressiv auch die Weltmachtbedeutung Moskaus wiederherstellen zu wollen.

Im Juni des Jahres 2000 traf sich der damalige US-Präsident Bill Clinton mit dem neuen russischen Präsidenten Putin und hatte angesichts dessen arrogant-konfrontativer Haltung düstere Vorahnungen. Er suchte Putins Vorgänger Boris Jelzin, der von Krankheiten und Alkohol gezeichnet war, in dessen Datscha auf und sagte zu ihm: „Boris – du hast dieses Land verändert. Du hast das Feuer des echten Demokraten und Reformers in dir. Ich bin nicht sicher, dass Putin das auch hat. Du musst ein Auge auf ihn haben und deinen Einfluss nutzen, um sicherzustellen, dass er auf dem rechten Weg bleibt.“ Jelzin hatte Gutes gewollt, aber das Land am Ende ins Chaos geführt.

Wladimir Putin sorgte für einen Wirtschaftsaufschwung und rüstete die maroden russischen Streitkräfte wieder auf, vor allem aber stellte er den Nationalstolz der Russen wieder her. Doch bezüglich der Demokratie blieb er nicht auf dem rechten Weg. Sein System des „Putinismus“ sieht weder eine kritische Presse noch ein unabhängiges Justizwesen vor und duldet schon gar nicht das Erstarken potenzieller Rivalen. Der charismatische Oligarch Michail Chodorkowski verschwand hinter Gittern, als er Putin herausforderte, und nun wurde auch der Oppositionelle Alexej Nawalny per Gericht stigmatisiert.

Putins eigene Sicht auf seine Rolle ist die des „CEO of Russia Inc.“ – des Vorstandsvorsitzenden einer Russland GmbH. Er führt das Land mit einer Gruppe, die nach Erkenntnissen von Fiona Hill 20 bis 30 Personen umfasst. Doch letztlich fallen wichtige Entscheidungen in Beratungen einer Elite durch nur ein halbes Dutzend Menschen, die in der Regel schon seit Putins Zeit in St. Petersburg eng mit ihm zusammenarbeiten.

Putins berühmtestes Zitat wird meist fehlinterpretiert


Der russische Politikwissenschaftler Gleb Pawlowsky – jahrelang Berater Putins, bis er in Ungnade fiel – sagte 2013 dem Londoner „Guardian“: „Wir sahen die ganze Zeit in die falsche Richtung, um Bedrohungen für die begrenzten demokratischen Fortschritte der Jelzin-Ära erkennen zu können. Jeder glaubte, sie würden von den Kommunisten kommen...“ Der selbstgerechte, von der orthodoxen Kirche abgesegnete, zutiefst illiberale Nationalismus, der nun herrsche, sei ein „Monster“, das die Oligarchen geschaffen hätten, um das Auseinanderfallen des russischen Staates zu verhindern. Und Putin, einst von den Oligarchen gestützt, brachte diese dann rasch unter seine Kontrolle.

Unter anderem mit einem Instrument, das er seit seiner Agentenzeit perfektioniert hat: Akten und Dateien mit sensiblen, oft belastenden Informationen über jeden, der ihm gefährlich oder nützlich sein könnte. Das ganz auf einen Mann zugeschnittene, hochpersonalisierte Machtsystem ist eine schwere Hypothek für Russland. Denn es kann im Grunde so nur an einen weiteren Autokraten übergeben werden – vielleicht gar erst nach einem gefährlichen Machtkampf im Kreml.

Putins berühmtestes Zitat ist meist fehlinterpretiert worden. Als er beklagte, der Zusammenbruch der Sowjetunion sei die „größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts“ gewesen, wurde dies oft auf das kommunistische Imperium bezogen. Tatsächlich meinte Putin damit aber die Macht des Staates – wohl auch über andere Staaten der Region.

Die erste Unabhängigkeitsfeier des neuen russischen Staates kommentierte Putin mit den Worten: „Unabhängigkeit von wem? Von uns selber?“ Nach Pawlowskys Beobachtung fürchtet Putin jede politische Veränderung auch deshalb, weil er in einer Zeit aufwuchs, in der Verlierer oft an die Wand gestellt wurden oder in einem Lager in Sibirien verrotteten.

Die Annexion der Krim und der Einmarsch in die Ukraine, im Mittelalter Kernzellen der russischen Großreiche, ereigneten sich nicht zufällig in einer Zeit, in der die bis dahin erfolgreiche russische Wirtschaft einzubrechen und Putins Glanz zu verblassen begannen. Seine offene Herausforderung an den Westen trug ihn daheim in neue Höhen der Popularität empor. Dieser Höhenrausch wird aller Voraussicht nach nicht von langer Dauer sein. Die Sanktionen des Westens kombinieren sich mit dem Verfall der Energiepreise zu einem Desaster für die russische Wirtschaft. Doch das Kernproblem ist ein anderes: Putin hat es seit langem versäumt, die russische Wirtschaft zu internationaler Wettbewerbsfähigkeit zu reformieren. Russland hat außer Waffen, Gas und Öl nicht viel zu bieten.

Putin schafft Puffer zu prowestlichen Tendenzen in der Ostukraine 


Wladimir Putin hat unter innenpolitischen Machtaspekten Zeit gewonnen und seinem Land die strategisch und psychologisch wichtige Halbinsel Krim zugeschanzt. Zudem hat er mit der Besetzung der Ostukraine einen Puffer zu prowestlichen Tendenzen in der Restukraine geschaffen. Man kann diese Aktionen als Erfolge werten.

Andererseits hat sich Putin furchtbar verschätzt. Die Reaktion des von ihm zugleich verachteten und gefürchteten Westens ist viel geschlossener und für Russland unangenehmer ausgefallen als gedacht. Indem er die Bedeutung der Krim für Russland mit der des Jerusalemer Tempelbergs für die Juden Israels verglich, hat er eine fast religiöse nationalistische Überhöhung des Konflikts ins Spiel gebracht, die jede Lösung erschweren wird. Zudem hat die militärische Aggression gegenüber der Westukraine dort einen Prozess der Nationenwerdung angestoßen, der auch Auswirkungen auf die Ostukraine haben wird. Immer stärker wird Putin ein Opfer der eigenen Propaganda. Während Russlands Kreditwürdigkeit sich auf einen Ramschstatus zubewegt, während die russischen Bürger bereits U-Bahn-Chips als mögliche Ersatzwährung horten, spricht Putin störrisch von „positiven Trends“.

Der einsame Zar im Kreml ist zum Gefangenen seiner selbst geworden.